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Berlin sieht rot: beim europäischen "Blitzmarathon" sind hunderte Polizisten in der Stadt und auch in Brandenburg im Einsatz.
© picture alliance / dpa

Blitzmarathon in Berlin: Die Polizei jagt nur die ganz schnellen Tempo-Sünder

Acht km/h werden toleriert und deshalb fährt ein Großteil der Autofahrer ganz selbstverständlich immer etwas schneller - ohne geblitzt zu werden. Andere Länder gehen damit strenger um.

Von Abzocke redet diesmal niemand: Die Polizei hat ihren Blitzmarathon an diesem Donnerstag so offensiv angekündigt, dass es wirklich jeder mitbekommen haben dürfte. Auch der ADAC lobt die Aktion als fair und transparent, zumal die Straßen mit Kontrollstellen vorab bekannt gegeben wurden. Insgesamt wollen mehr als 1000 Polizisten an mehr als 250 Orten messen. Bereits bei den vergangenen Aktionen war die Zahl der erwischten Raser im Verhältnis zur Masse der Kontrollen relativ gering. Autobahnpolizisten berichteten beim Blitzmarathon 2013 von einem ihrer ruhigsten Arbeitstage überhaupt: Viele Autofahrer fuhren an jenem Tag lieber ein paar Stundenkilometer unterm Limit.

Damit zeigte sich ein durchaus bedenkliches Phänomen: Tempolimits geben die Geschwindigkeit an, die unter günstigsten Umständen erlaubt ist. Ein Großteil der Autofahrer fährt allerdings ganz selbstverständlich etwas schneller – und hat bei Kontrollen gar nichts zu befürchten: Auf allen Arten von Straßen in Berlin werden Tempoverstöße erst ab 9 km/h über dem Limit geahndet. Wer also mit Tempo 38 vor einer Schule vorbeifährt, bleibt von Radarwagen oder Lasern unbehelligt. Erst bei Tempo 39 löst der Blitzer aus. Besonders stark wirkt dieser Puffer in Verkehrsberuhigten Bereichen („Spielstraßen“): Dort kann man mehr als doppelt so schnell fahren wie die erlaubten 7 km/h, ohne geblitzt zu werden.

Die Berliner Polizei erwägt bisher allerdings nicht, die Auslöseschwelle zu senken

Da doppeltes Tempo vierfachen Bremsweg bedeutet, scheint der Puffer fragwürdig. Die Berliner Polizei erwägt bisher allerdings nicht, die Auslöseschwelle zu senken, heißt es auf Anfrage.

Wer doch geblitzt wird, hat außerdem die Toleranz auf seiner Seite: Zur Ermittlung der Geldstrafe werden vom gemessenen Tempo 3 km/h (oder bei mehr als 100 km/h drei Prozent) abgezogen, obwohl moderne Geräte bei korrekter Einstellung sehr genau messen. Nach Auskunft der Polizei beruhen die Toleranzwerte auf Festlegungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB).

Der Verkehrssicherheitsexperte Siegfried Brockmann, der die Unfallforschung der Versicherer (UDV) leitet, hält die Messtoleranz für „sehr großzügig bemessen“. Allerdings sei sie vor Gerichten derart üblich, dass ihre Abschaffung ein mühsamer juristischer Kampf würde. Den 9-km/h-Puffer bei der Auslöseschwelle zu senken, sei zwar „überlegenswert“, aber den Leuten schwer zu vermitteln: „Wer zehn km/h über dem Limit ist, hat die 15 Euro Strafe dafür definitiv verdient. Aber wenn jemand beispielsweise nur vier km/h zu schnell gefahren ist und dafür zahlen soll, gerät man doch wieder ganz leicht in die Abzocke-Debatte.“

Zu schnelles Fahren ist eine der häufigsten Unfallursache

Das größte Defizit sieht Brockmann in der allgemeinen Unkenntnis über den Unterschied zwischen „überhöhter“ und „nicht angepasster“ Geschwindigkeit: Während Erstere nach einem Unfall meist nur per Gutachten nachweisbar ist, zählt Letztere zu den drei häufigsten Unfallursachen. „Nicht angepasst“ kann auch Tempo 40 auf einer 50er-Strecke sein, wenn ein Kind am Bordstein steht oder ein betagter Fußgänger die Straße quert. Nur wird das vielen erst nach einem Unfall klar, wenn sie – oft vierstellige – Strafbefehle wegen fahrlässiger Körperverletzung bekommen. „Dieses Defizit beseitigt auch der Blitzmarathon nicht“, sagt Brockmann.

Im Ausland wird teils auf anderen Wegen versucht, das Geschwindigkeitsniveau zu senken: Auf den Straßen von New York gilt seit November bis auf wenige Ausnahmen Tempo 40 (25 Meilen pro Stunde) statt zuvor Tempo 48 (30 Meilen). Und in der Steiermark wird seit 2013 innerorts jeder belangt, der mehr als vier km/h zu schnell fährt. Zuvor wurden bis zu 16 km/h über dem Limit geduldet. Der Verkehrspolizeichef berichtete im Österreichischen Rundfunk, dass seitdem zwar viel mehr Temposünder erwischt würden, aber die Bußgeldeinnahmen trotzdem deutlich zurückgingen. Denn die Zahl der Raser mit massiv überhöhtem Tempo – und entsprechend hohem Bußgeld – sank dank der neuen Regel stark. So sei auch der Vorwurf der Abzocke von der Realität widerlegt worden.

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