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Trümmerpanoramen der Nachkriegszeit
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Überleben, weitermachen: Die Not in der Trümmerstadt Berlin machte alle gleich

Berlin im Mai 1945 - eine Trümmerwüste. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse war das Gebot der Stunde. Die Nazis waren weg, als hätte es sie nie gegeben.

Zum ersten Konzert der Berliner Philharmoniker stolperten die Berliner über die Trümmer ihrer Stadt am 26. Mai 1945 nach Steglitz zum Titania-Palast in der Schloßstraße. Das war die einzig mögliche Spielstätte, und die Aufführung (Mozart, Tschaikowsky und zum ersten Mal seit 1933 in Deutschland wieder Mendelssohn-Bartholdy) war ein Wunder. Zustande gebracht hatte sie Leo Borchard, der aus Russland stammende Dirigent, der sich den Nazis nicht nur verweigert, sondern Widerstand geleistet hatte in der kleinen Gruppe „Onkel Emil“.

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Auch die war eine Besonderheit: Die Hilfe für Juden war für den Freundeskreis Anlass zum Protest mit dem Höhepunkt im April 1945, als über Nacht an vielen Stellen in ganz Berlin das Wort „Nein“ den hirnlosen Durchhalteparolen der Nazis entgegengepinselt wurde. Die Gruppe Onkel Emil hatte Kontakt zum Kreisauer Kreis, zum kommunistischen Widerstand und zum jüdischen Untergrund.

Die kunstliebenden Russen ernannten Borchard zum Chefdirigenten

Leo Borchard war – zu Fuß und mit dem Fahrrad – im Mai 1945 rastlos unterwegs, überzeugte die sowjetischen Offiziere in der Kommandantur von der Notwendigkeit der Musik im Elend der beginnenden Nachkriegszeit. Die kunstliebenden Russen ernannten Borchard zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Während Wilhelm Furtwängler in der Schweiz abwartete, bis der Hautgout seiner Nähe zu Hitler verflogen sein würde, trommelte Leo Borchard die Musiker zusammen, organisierte die Termine und den Transport der Instrumente. Kontrabässe wurden auf Rollschuhen bewegt, Kesselpauken im Kinderwagen, die Harfe auf der Schubkarre.

Von einem GI versehentlich erschossen

Ob Borchard Chef der Philharmoniker geblieben wäre, bleibt offen, denn nach 100 Tagen euphorischen Konzertbetriebs zwischen Trümmern wurde er im August 1945 an der britisch-amerikanischen Sektorengrenze von einem GI versehentlich erschossen. Auch das kann man als Symbol sehen für das allmähliche Wiederauftauchen der Parteigenossen Hitlers, die in der Stunde der Befreiung und danach ziemlich lange nicht in Erscheinung traten.

Es schien gar keine Nationalsozialisten gegeben zu haben. Die Funktionseliten des Regimes, die Bonzen und „Goldfasane“, hatten sich unsichtbar gemacht, sofern sie nicht im „automatischen Arrest“, im ehemaligen KZ Sachsenhausen oder in einem anderen Lager interniert waren. Die niederen Chargen, verkörpert in der Figur des Blockhelfers, des Amtswalters, des Ortsgruppenleiters, waren wie alle, die um ihrer Karriere willen Hitler zugejubelt hatten und der NSDAP beigetreten waren, plötzlich anderen Sinnes geworden. Sie sympathisierten im Mai 1945 mit dem Widerstand, den sie eben noch verdammt hatten, sie entdeckten unter sowjetischer Besatzungsherrschaft ihre antifaschistische Überzeugung, oder wurden kirchenfromm, wo die Amerikaner das Sagen hatten und begeisterten sich für die parlamentarische Demokratie.

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Die sowjetischen Offiziere rekrutierten für unerfreuliche Tätigkeiten wie Trümmer beseitigen, Schutt schaufeln, Leichen ausgraben Nazis oder wen sie dafür hielten, also alle Deutschen. Es war nicht mehr attraktiv, Parteigenosse gewesen zu sein, deshalb suchte man aber nicht eine neue Orientierung, sondern Leumundszeugnisse von Unverdächtigen, die so taten, als glaubten sie den Beteuerungen, man sei insgeheim dagegen gewesen, habe jüdische Freunde gerettet, Regimegegner unterstützt. Die Entnazifizierung im Selbstverfahren setzte unmittelbar ein, lange bevor die Spruchkammern errichtet und der gesetzliche Rahmen der politischen Säuberung geschaffen war.

Alle litten Hunger, viele waren ohne Obdach

Anpassung an die neuen Verhältnisse war das Gebot der Stunde. Not nivellierte die Unterschiede zwischen Nationalsozialisten, Regimegegnern und Gleichgültigen. Die vernichtete Infrastruktur machte Berlin im Mai 1945 zur Wüste, in der alle Hunger litten, viele kein Obdach hatten. Menschen strömten zu Fuß oder auf dem Fahrrad auf der Suche nach etwas Essbarem und auf der Suche nach Angehörigen und Freunden, auf der Suche nach dem alten oder einem neuen Arbeitsplatz durch die Trümmerlandschaft. Zurückgeworfen auf vorzivilisatorischen Zustand: ohne Strom, ohne Heizung, ohne Licht. Wasser musste kilometerweit geschleppt werden. Gefühle des Befreitseins und das Bedürfnis nach Klärung des eigenen Anteils an der Katastrophe waren noch nicht erwacht.

„Schuhe gegen Mehl, Bratpfanne gegen Rucksack"

Die junge Schauspielerin Hildegard Knef erinnert sich, wie bereits arrivierte Kollegen im Zeichen der Naturalwirtschaft der Not trotzten, sie reparierten Fahrräder oder tauschten am Brandenburger Tor „Schuhe gegen Mehl, Bratpfanne gegen Rucksack, Eipulver gegen Fahrradpumpe, Teekanne gegen Trockenerbsen, Graupen gegen Perserbrücke“. In solcher Situation war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Abrechnung mit den Nazis nicht das Hauptproblem. Außerdem hatten sich die Alliierten die juristische Verurteilung der NS-Verbrecher und die Beseitigung der NS-Ideologie selbst vorbehalten. Sie hatten ja Grund zur Annahme, dass die Deutschen, die bis zum bitteren Ende der militärischen Niederlage Hitler treu geblieben waren, nicht mündig seien, das Geschehene von sich aus aufzuarbeiten.

Die Beseitigung des Nationalsozialismus war Sache der Alliierten

Der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der als entschiedener und deshalb angefeindeter Aufklärer von Nazi-Verbrechen zu spätem Ruhm kam und Symbolgestalt wurde, war noch in weiter Ferne. Die Ansätze, die es in Gestalt der Antifa-Komitees in einigen Städten am Kriegsende gab, als Angehörige der 1933 verbotenen Arbeiterbewegung, Gewerkschafter und Sozialdemokraten Nazis am Untertauchen hindern und sie zur Rechenschaft ziehen wollten, wurden von den Alliierten, auch den Sowjets, rasch unterbunden. Die Beseitigung des Nationalsozialismus war Sache der Alliierten.

Zum Hunger und zum Unbehaustsein kam die Angst vor den Soldaten der Roten Armee, die auf der Jagd nach Siegestrophäen waren, Fahrräder, Armbanduhren, Radios und alles sonst Begehrenswerte requirierten und Frauen als Kriegsbeute nahmen. Im Tagebuch der Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich steht unter dem Datum des 6. Mai 1945: „Panik herrscht in der Stadt. Bestürzung und Entsetzen. Wohin wir kommen, Raub, Plünderung, Gewalt. In hemmungsloser Liebesgier hat sich das Heer unserer Sieger auf die Berliner Frauen gestürzt … Es gibt kein anderes Gespräch in der Stadt. Und es gibt keinen anderen Gedanken. Selbstmordstimmung liegt in der Luft.“

Die US-Armee war willkommen

Dass sich viele unter den Besatzern so benahmen, wie Goebbels mit seinen Durchhalteparolen prophezeit hatte, wirkt lange nach. Willkommen war dagegen die US-Army, die im Juli 1945 in Berlin einrückte, ihre Soldaten begehrten nicht das Eigentum der Besiegten, stattdessen fiel von ihrem Überfluss an Nahrung, Schokolade und Zigaretten manches für die Deutschen ab.

Wolfgang Benz: Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe "Onkel Emil" im Nationalsozialismus.
Wolfgang Benz: Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe "Onkel Emil" im Nationalsozialismus.
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Trotzdem weckt die Abscheu vor den sowjetischen Siegern keine Sehnsucht nach der Nazi-Herrschaft. Dessen Untergang sahen nur wenige nicht mit Erleichterung. Die Demütigung der Deutschen, die sich in absoluter Ohnmacht einer neuen Obrigkeit ausgeliefert fühlten, deren Willkür und Allmacht grenzenlos war, behinderte die Auseinandersetzung mit der untergegangenen NS-Diktatur mehr, als sie dadurch gefördert wurde. Die Vorstellung, eine Zivilgesellschaft mündiger Bürger habe sich nach der Befreiung von einer menschenfeindlichen Ideologie als erstes mit dieser auseinandersetzen wollen, ist naiv. Abgesehen davon, dass es diese Gesellschaft nicht mehr gab.

Die meisten Deutschen sahen sich als Opfer

Den Wunsch, das Chaos des Kriegsendes zu überwinden, wieder zu sicherer Existenz ohne materielle Not zu kommen, teilten Opfer und Täter, Nutznießer und Mitläufer mit politisch und moralisch Gleichgültigen. Im Mai 1945 sahen sich die meisten Deutschen als Opfer: der Bomben des Luftkriegs, des Hungers, des Verlustes von Angehörigen, der Heimat, der physischen Schmach, die fremde Soldaten Frauen und Männern zufügten. Die nationale Hybris, den Rassismus, den Verlust politischer Mündigkeit 1933, die Überfälle auf Polen 1939 und die Sowjetunion 1941, die Verbrechen deutscher Besatzer, den Judenmord als Ursprung des eigenen Elends zu sehen – das war den meisten im Frühjahr 1945 noch nicht möglich.

Eine "Stunde Null" gab es nicht

Der Wille zum Neuanfang aus dem Nichts einte Nazis, Mitläufer und Gegner des Regimes. Es gab weder die „Stunde Null“, die als griffige Metapher irgendwann erfunden wurde im Dienst der Illusion des radikalen Neuanfangs, noch ein Innehalten zur Selbstvergewisserung, in dem die Befreiung vom Nationalsozialismus reflektiert wurde. Der Drang zum Überleben, zum Weitermachen beherrschte im Frühjahr 1945 die Berliner und forderte alle Kraft.

Wolfgang Benz ist Historiker und leitete bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.

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