Kriegstagebuch des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger: "Die Nazis sind erledigt"
April 1945, die Rote Armee rückt in Mahlow ein. Erik Reger, Schriftsteller und Journalist, führt ein packendes Tagebuch über das Kriegsende vor seiner Haustür. 60 Jahre nach dem Tod des Tagesspiegel-Mitgründers wurden die Notizen wieder entdeckt – wir dokumentieren Auszüge.
Erik Reger, 1893 als Hermann Dannenberger in Bendorf am Rhein geboren, war vor und nach der Nazizeit einer der bekanntesten Schriftsteller und Journalisten in Deutschland – und ein Pionier der freien Presse nach dem Krieg. Im September 1945 wurde Erik Reger Lizenzträger, Herausgeber und Chefredakteur des Tagesspiegels, dessen erste Ausgabe am 27. September des Jahres erschien.
Von 1943 bis zum Sommer 1945 lebte Reger mit seiner Frau Christine in dem Dorf Mahlow südlich von Berlin. Über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs vor seiner Haustür, über den Einmarsch der Roten Armee, die Lebenssituation von Einheimischen und Flüchtlingen, den Umgang der Menschen mit der Zeitenwende schrieb Reger ein packendes Tagebuch. Fünf Tage nachdem die Russen die Oder überquert hatten, begann er seine Aufzeichnungen. Am 1. Mai 1945 waren bereits alle Seiten restlos vollgeschrieben, Reger schrieb auf losen Blättern weiter. Das mit zahllosen Zetteln ergänzte Manuskript, aber auch eine Maschinenabschrift des Tagebuchs entdeckte kürzlich der Autor und Historiker Andreas Petersen, als er in der Akademie der Künste Regers Nachlass durchsah. Petersen erkannte die Bedeutung dieser Erinnerungen und bereitete die Notizen zur Publikation im Berliner Transit-Verlag vor. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Band.
21. APRIL, SAMSTAG
Seit Mitte der Woche hat sich der Kanonendonner von der Front östlich und südöstlich Berlins verstärkt. Nach Berlin durften in den letzten Tagen nur noch Leute mit rotem Ausweis fahren. Ich besitze einen gelben. Rot ist Rüstungsindustrie, das heißt die Fiktion, daß eine solche noch existiere.
Die S-Bahn fährt sehr sporadisch. Man sagt, daß die Leute, wenn sie nach Berlin kommen, zurückbehalten und Verteidigungspositionen zugeteilt werden.
Mechanisch tut man die Dinge des Tages. Der Frontlärm bildet eine zwar drohende, aber angesichts der allgemeinen Abgestumpftheit nach so vielen turbulenten Kriegsereignissen ganz unwahrscheinlich wirkende Kulisse. Ich bestelle weiterhin den Garten, mit der Vorsicht, die dadurch geboten ist, daß ich mich beim Volkssturm dauernd krank melde. Ich tue die Gartenarbeit in der Gewißheit, daß im kommenden Sommer jedes Salatblatt wichtig sein wird, aber auch in der Ungewißheit, wer das hier Gesäte ernten wird.
Die deutschen Schlachtflugzeuge fliegen die kurze Strecke zwischen dem Flugplatz Rangsdorf und der Front hin und her, her und hin. Es sind ihrer ganz wenige. Sie steigen auf, kommen rasch zurück, nehmen jedes wieder eine Bombe an Bord und steuern erneut zur Front. Dadurch erscheint ihre Zahl größer. Im OKW-Bericht heißt es dann: "Unsere Schlachtflieger brachten den schwer ringenden Erdtruppen bei Tag und Nacht fühlbare Entlastung."
Abends nach neun erscheinen die russischen Schlachtflieger. Sie erhellen weite Strecken mit ihren lange stehenden Leuchtfackeln - ganze Alleen von Lampen, von hier anzusehen wie ein erleuchteter Rummelplatz. Man kann die Einschläge der Bomben in Richtung Erkner und Königs Wusterhausen beobachten. Das zieht sich stundenlang hin. Unheimlich sind die einzelnen, die sich aus den Verbänden lösen, über das Stadt- und südliche Randgebiet rasen, einen grünen Leuchtschirm und unmittelbar darauf zwei Bomben werfen. Ist das vorbei, dann kommen die englischen Mosquitos. Von Abend zu Abend bilden sie mehr Angriffswellen; vorgestern waren es fünf, gestern sogar sieben, immer in Abständen von einer halben bis dreiviertel Stunde. Ich schätze aber, daß wir diese Daueralarme infolge der russischen Vormärsche sehr bald hinter uns haben werden. ...
Vier, fünf Stunden lang Alarm. Gestern waren wir bis drei Uhr nachts im Keller. ... Wir sind insgesamt sieben Personen im Hause, darunter zwei Kinder von zwei und drei Jahren. Außer meiner Frau und mir zwangseinquartierte Familien aus Berlin und Breslau. Ich bin der einzige Mann.
22. APRIL, SONNTAG
... Unaufhörlich ergießt sich der Flüchtlingsstrom von Süden und Südosten her über Mahlow in Richtung Großbeeren. Alles will "zu den Amerikanern". Diese Flüchtlinge sind, genau wie die seit Anfang Februar hier einquartierten Ostpreußen, Pommeraner und Schlesier ein Kapitel für sich. Sie erwecken einerseits Mitleid, andererseits stoßen sie durch ihr anmaßendes Verhalten ab. Sie sind der Meinung, daß, weil sie alles im Stich lassen mußten, ihnen alles gehöre, was andere noch besitzen. ....
Meine Frau war einem Offizier begegnet, der ihr sagte: "Gehen Sie von hier fort zu den Amerikanern, die sind nicht so, aber der Russe -!" Auf die Frage meiner Frau: "Warum halten Sie denn die Russen nicht auf?", kam die Antwort: "Womit denn?" ....
Büropersonal verbrennt im Garten des Gemeindehauses [auf dem Nachbargrundstück zum Regerschen Haus] immer noch Akten. Auch wird dort, jetzt nur noch von der alten Frau Huhn, einer Art Beschließerin und Faktotum, irgend etwas vergraben - man sagt, die Hitlerbilder. Niemand kümmert sich um all das. Niemand verhindert Vertuschungsmanöver im Gemeindehause ... Vollkommene Apathie und Resignation ist das allgemeine Kennzeichen. Die Tatsache, daß wirklich der Wahnsinn des Kämpfens und Zerstörens bis zum letzten Zaunpfahl in Deutschland fortgesetzt wird, lastet in Verbindung mit der Russenangst und dem Gefühl, daß man nicht entgehen kann (etliche packen Wägelchen zur Flucht und bleiben dann doch - "wohin denn?" ist die ewige Frage), so sehr auf den Gemütern, daß für aktives Denken gar kein Raum bleibt. So kommt es, daß die scherzweise von uns "Bürgermeisterin" genannte, in der nationalsozialistischen Gemeindeverwaltung tonangebende Obersekretärin Krüger unbefangen ihre Rolle weiterspielen kann. Gestern hat sie noch zu meiner Frau gesagt: "Ich gebe die Hoffnung nicht auf." Die Hoffnung auf Hitlers Wunder...
23. APRIL, MONTAG
... Zehn Uhr ist vorüber. Auf den Kornäckern hinter unserem Hause sieht man die ersten Russen, vereinzelt und in Trupps. Sie sind zu weit weg, ich kann nicht erkennen, wie sie aussehen. ...
Über Berlin hängt der Rauch von Artilleriefeuer und Bränden.
Elf Uhr: zwei Russen treten durch unser Gartentor. Ich öffnete sofort die Haustür und ging ihnen entgegen. Seit dem Morgen hatte ich folgende "Maßnahmen" getroffen: auf meinem Schreibtisch liegt eine Beilage des "Berliner Tageblatts" aus dem Jahre 1932, der Sowjetunion gewidmet, illustriert, mit Stalins Bild auf der ersten Seite. ...
Die beiden, die da gekommen waren, trugen eine Art Windjacke und Trainingshosen, dazu Maschinenpistolen; verwegene Gesichter, finstere Mienen - alles in allem ebensowohl so zu deuten, daß sie selbst Furcht hatten, wie daß sie Furcht einflößen wollten. Ich sagte: "Guten Tag, da seid ihr ja", was sie in jeder Weise, auch im Mienenspiel, unbeantwortet ließen. Sie schoben sich ins Haus hinein und durchwanderten forschend die Zimmer. Wonach sie forschten, war nicht ganz klar.
Ich zeigte ihnen das Bild Stalins. Das brachte ein Lächeln auf ihre verschlossenen Züge, während sie für den Namen Schukow kein Verständnis hatten. Sie schienen etwa fünfundzwanzig Jahre alt zu sein. Typ Dorfhandwerker. Endlich fragten sie nach Schnaps. "Schnaps" konnten sie auf deutsch sagen. Ich suchte ihnen zu erklären, daß sie Schnaps vermutlich in Berlin finden würden. "Berlin kaputt", meinten sie. Ein Blick auf meine Bücher ließ offenbar eine Ahnung in ihnen aufdämmern, daß ich vielleicht tatsächlich keinen Schnaps im Hause hätte. Zögernd gingen sie.
Nach wenigen Minuten zwei andere: ein älterer, bärtiger, in Monteurjacke, ein junger, balkanisch aussehender, mit schwarzem Schnurrbärtchen und grünbrauner Uniform. Der ältere sagte: "Waffen?" Schreibtisch und Schränke wurden durchsucht - so, wie von allen Soldaten der Welt, wenn sie nicht gerade geborene Sadisten sind, ein solcher Auftrag durchgeführt wird. Ich hätte hundert Waffen versteckt haben können, sie hätten sie nicht gefunden. ... Die beiden nächsten waren schwieriger. Zwei baumlange, angetrunkene Kerle, die durchaus Schnaps wollten. Als sie endlich begriffen, daß wir keinen haben, verlangten sie, daß ich ihnen zeige, wo es welchen gibt. Meine Frau sagte mir später, daß der eine mich immerzu an der Schulter gefaßt und geschubst habe. Ich habe das gar nicht bemerkt, weil ich mich darauf konzentrierte, die Kerle mit einem Trick loszuwerden. Aber damit, daß ich undeutlich in der Gegend herumzeigte, ließen sie sich nicht abspeisen. Im Hause schräg gegenüber wohnt Herr Heß, von dem es heißt, er sei Wein- und Spirituosengroßhändler. Ich weiß es nicht, wir haben hier immer zurückgezogen gelebt und uns um niemanden gekümmert. Ich habe nur gesehen, daß alle Mahlower Kaufleute während des Krieges Herrn Heß Waren ins Haus brachten, während andere Leute nicht einmal im Laden etwas bekamen. Herr Heß hat sich, obwohl er Halbjude ist, unter den Nazis recht gut gehalten und sich sogar im Volkssturm betätigt, allerdings in der Regel nur als platter Witzbold im Hamburger Tonfall. Mögen die Russen ihr Glück dort versuchen, dachte ich. ... Die Burgsdorfstraße belebt sich mit Fahrrädern, die die Russen aus den Häusern geholt haben. ... Sie radeln mit der Leidenschaft eines Jungen, der sein erstes Fahrrad bekommen hat, und die Mehrzahl muß das Radeln erst lernen. ...
Der russische Hauptmann trägt eine ähnliche Frisur wie Hitler
Wie es im einzelnen vor sich ging, wußten wir kaum zu unterscheiden, jedenfalls füllte sich die Terrasse vor dem Hause im Handumdrehen mit einer Menge Soldaten. ... Wir verstanden, daß wir den Stab einer Fernsprecherabteilung im Hause hatten. Die Offiziere und der Dolmetscher bewunderten meine Bücher. Ich zeigte ihnen die russische Übersetzung meines Romans "Union der festen Hand", der mir vor vierzehn Jahren den Kleistpreis der Linken und den Haß und die Verfolgung der Rechten zugezogen hatte. Einer, ein Hauptmann, las aufmerksam das Vorwort des Übersetzers Max Bernstein, das über Werk und Autor orientiert. Es entspann sich ein Gespräch über Nationalsozialismus und Krieg. ... Der Hauptmann insbesondere schien, wie das in Deutschland hieß, "politisch geschult" worden zu sein. Er sprach einen Propagandasatz nach dem anderen mit religiösem Eifer. Und er hatte eine ähnliche Frisur wie Hitler. Durchweg benahmen die Offiziere sich höflich. Auch hatten sie das bei allen Nationen übliche Maß an Allgemeinbildung, was der Skeptiker in mir auf das Konto der Spezialtruppe, der sie angehörten, buchte. Was an Mannschaften im Zimmer herumstand oder nach und nach neugierig hereinkam, war anständig. ... "Sie haben Glück gehabt, daß Sie den Stab bei sich hatten", sagte später jemand zu mir, und ich mußte hören, daß andere Soldaten der gleichen Abteilung anderwärts ungebärdig gehaust hatten: den Inhalt von Koffern und Schubladen durcheinandergeworfen und teilweise mitgenommen, Eßvorräte vertilgt und das, was sie nicht mochten, auf die Erde geschüttet und zertreten. Ich dachte an einen der russischen Offiziere, der sich hatte angelegen sein lassen, mir den Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Roten Armee und der deutschen Propaganda über sie klarzumachen. Gewisse Übergriffe seien im Kampfgebiet unvermeidlich, aber die deutschen Truppen hätten in Rußland systematisch Greuel begangen - wozu er Fälle jener Art anführte, von denen wir wieder und wieder nicht allein in ausländischen Radiosendungen, sondern auch in mündlichen Berichten deutscher Soldaten (solcher, die sich dessen rühmten, und solcher, die sich dessen schämten) mit stummem Schauder gehört haben. Ich habe die Erklärungen des Offiziers akzeptiert und bin geneigt, angesichts der "Taten" der nationalsozialistischen Wehrmacht - keineswegs bloß der SS - dem einfachen russischen Soldaten sogar mehr nachzusehen, als der Offizier dulden wollte.
Die Rotarmisten haben drei Liebhabereien: Radfahren, Frauen und Schießen
24. APRIL, DIENSTAG
... Später am Abend in unserer Gegend viel Knallerei aus Pistolen, Gewehren und Maschinenpistolen. Wie schon bei Tage, gestern und heute. Bis jetzt lassen sich bei den Soldaten der Roten Armee drei Hauptliebhabereien erkennen: Radfahren, Frauen und Schießen. Schießen aus Lust am Knall. Sie schießen auf alles: auf Sperlinge, Katzen, Hunde, Porzellanisolatoren an Telegraphen- und Lichtstrommasten.
25. APRIL, MITTWOCH
... Etwas später habe ich drei Burschen in der Diele stehen, die die gleichen robusten Gesichter, aber sehr mannigfache Kostüme haben - man muß schon sagen: Kostüme, denn sie erinnern alle ein wenig an Große romantische Opern von Verdi und dergleichen; der Anführer im weiten grauen Cape, alles an ihm wallend, auch die Bewegungen, der zweite in knapper, mit einem Riemen stark anliegend geschnallter Jacke, der dritte fast zivilistisch - vagabundisch bunt - so könnten sie die Verschwörer aus dem "Maskenball" sein. Der Anführer äußert ihre Wünsche: Cherchez la femme. "Nein", sage ich, "hier nicht." "Oh", meint er, "Soldatt ..." Er will wohl sagen: Soldaten brauchen das, das ist doch gar nichts Schlimmes, und mit einer langen, beinahe eleganten Handbewegung, macht er die Gebärde des Ausstreckens, des Hinlegens.
26. APRIL, DONNERSTAG
... Es ist eigentümlich, alle Leute "Guten Morgen" sagen zu hören, als hätten sie nie "Heil Hitler" gesagt. Und wie verbreitet war das "Heil Hitler" in Mahlow! Jetzt behaupten alle, den Schwindel immer durchschaut zu haben, und wenn man auf ein Klagelied über Plünderung antwortet, das sei eben das Ergebnis von zwölf Jahren Nationalsozialismus, so rennt man offene Türen ein. Ich habe es ja stets vorausgesagt, daß es so ganz undramatisch kommen wird. Nichts von Rache, nichts von Reinigung. Jeder schlägt sich seitwärts in die Büsche und ist nie dabei gewesen. Selbst darüber, wie die deutschen Soldaten es in Rußland, Frankreich, Belgien, Holland getrieben haben, sind alle "Volksgenossen" sich plötzlich klar!
27. APRIL, FREITAG
... Meine Frau bringt ferner die Nachricht mit, daß um 18 Uhr russischer Zeit - das wäre 17 Uhr deutscher Sommerzeit - vor der Post eine Versammlung einberufen sei, in der der neue Kommandant sprechen und ein neuer Bürgermeister gewählt werden solle. Es werde erzählt, der frühere Bürgermeister Hagena habe geäußert, es bestehe kein Grund, ihn nicht wieder zu wählen, er sei zwar von den Nationalsozialisten eingesetzt gewesen, habe aber immer nur das Wohl des Ganzen im Auge gehabt. ...
Da macht meine Frau mich darauf aufmerksam, daß der Hitlerbürgermeister Hagena auch dort in der Menge steht. Über so viel Unverfrorenheit verliere ich die Beherrschung. "Ach", sage ich laut und gleich öffnet sich eine Gasse und ich bin für drei Minuten Volksredner, "Herr Hagena ist auch da? Erinnern Sie sich noch, daß Sie mir vor einem Jahr gesagt haben: Heute hat der Führer Geburtstag, es soll geflaggt werden, haben Sie keine Fahne, weil Sie nicht flaggen?" "Ja", fällt meine Frau ein, "und erinnern Sie sich, daß Sie uns Ihren Nazigendarm Geßler ins Haus geschickt haben, um das Zimmer unseres Sohnes für angeblich total Bombengeschädigte zu beschlagnahmen, von denen sich herausstellte, daß ihre Berliner Wohnung bewohnbar ist? Und daß Sie uns durch den Herrn Geßler sagen ließen: Ihr Sohn kann auf Stroh schlafen, wenn er als Soldat in Urlaub kommt?
"Nun", sage ich, "wie lange glauben Sie noch hier stehen zu können, Herr Hagena? All die Jahre haben Sie mich schikaniert und dem sogenannten Ortsgruppenleiter, Herrn Wirth, Beobachtungen über mich hinterbracht. 'Ich bin über Sie unterrichtet', sagte der zu mir. Wo ist er jetzt? Geflüchtet natürlich. Er hat Sie wohl nicht mitgenommen?"
"Wo haben Sie denn Ihr Bonbon?", fragt meine Frau - "Bonbon" ist der volkstümliche Ausdruck für das Parteiabzeichen gewesen, "Bonbon" oder auch "Rettungsring". Herr Hagena hat die ganze Zeit über dagestanden, zitternd, mit einem gefrorenen Lächeln und halboffenem Mund. Gesagt hat er nichts. Aber auf die letzte Frage meiner Frau antwortet er ganz einfältig: "Verbrannt." So einfältig ist er auch als Bürgermeister gewesen, die Säulen, an die er sich lehnte, waren die Obersekretärin Krüger (von uns daher die "Bürgermeisterin" genannt) und der Ortsgruppenleiter Wirth. Die Leute, die da stehen, haben das alles mit Interesse, aber schweigend, angehört. So schweigend, wie sie jede aktive Äußerung während der ganzen Hitlerzeit aufgenommen haben. Wenn man sich in Berlin auf die Invalidenstraße gestellt und einen flammenden Aufruf verlesen hätte, wären sie allerdings weggelaufen. Etwas Politisches zu sagen, ist auch jetzt ganz wertlos. So haben wir uns wenigstens mit dieser kleinen ... Szene vor der Öffentlichkeit Luft verschafft.
Wahrscheinlich, wenn man diese innere Geschlagenheit des Volkes ansieht, könnte man versucht sein, die Geschehnisse 1918 eine wirkliche Revolution zu nennen. Man kann ihnen nicht einmal zugute halten, daß sie nach dem russischen Ansturm dieser Tage nur noch mit sich selbst zu tun haben und allzu überwältigt sind - es wäre ohne die Turbulenz und Plage dieser Woche nicht anders. Langsam gehen wir, und da schließt sich plötzlich Herr Heß mit seiner Frau an. ... Herr Heß, der neugierig stehen geblieben war, als ich dem Offizier mein Buch zeigte, meinte jetzt: "Nun kann ich mir erklären, warum Sie als Nachbar so zurückhaltend waren, hätte man das gewußt, hätte man doch zusammenkommen können, ich hätte als Halbjude -". Meine Frau unterbricht ihn: "Aber Sie haben stets laut 'Heil Hitler' gesagt, sogar, wenn Sie jemand mit 'Guten Tag' gegrüßt hatte." Frau Heß ist sehr bereit mit Erklärungen, warum sie das hätten tun müssen. "Ja, ja", sagte ich, "man kennt das ja."
28. APRIL, SONNTAG
Ich mache mich gegen zehn auf den Weg nach Blankenfelde, wo "eine Redaktion" sein soll. ...
Viel Trubel mit Lastwagen. Auch deutsche Wanderer, die aus den Vororten Berlins herauskommen. ... In Blankenfelde las ich zum ersten Mal eine russische Bekanntmachung. Verdunkelung, Ausgehverbot nachts usw. Unterzeichnet von einem Major als interimistischem Kommandanten. "Die Kommandantur befindet sich Horst-Wessel-Straße 5." Ich bin überzeugt, der Kommandant würde sich nicht genieren, auch aus der Adolf-Hitler-Straße Verfügungen zu erlassen, wenn er dort abgestiegen wäre.
Von irgendwelchen Zeitungsleuten weit und breit nichts.
29. APRIL, SONNTAG
... Es kommen Leute aus Berlin vorbei. ... Ihre Berichte sind unterschiedlich, sehr subjektiv gefärbt. Sie ergeben kein Bild der Lage in Berlin. Plünderungen, Vergewaltigungen. Aber auch Beispiele anständigen Betragens der Russen. Diese sind ebenso legendenhaft anzuhören wie die schauerlichen Fälle von Mißhandlungen und Erschießungen. An allem wird ein kleiner, ganz kleiner Wahrheitskern sein, dessen wirklicher Gehalt nicht nachzuprüfen ist. Von den Kampfhandlungen wissen diese Leute offenbar auch nur vom Hörensagen. Die Einzelheiten sind widersprechend. Übereinstimmend wird von scharfen Kämpfen am Teltowkanal berichtet, namentlich in Tempelhof beim Ullsteinhaus.
Von Neukölln erzählen einige, es habe 24 Stunden unter Trommelfeuer gelegen.
7. MAI, MONTAG
... Wir haben wirklich einen Kommandanten! Er hat einen "Befehl-Nummer 1" an die Bäume nageln lassen: Ausgehverbot nachts; strenge Verdunkelungspflicht; Ablieferung von Schreibmaschinen und Radioempfängern und Sendern binnen 3 Tagen; und anderes Kriegsübliche. Wir haben zwar ohnedies keinen elektrischen Strom, trotzdem halte ich die Ablieferungspflicht der Radioempfänger für unsinnig. Die Alliierten sollten das größte Interesse daran haben, die Bevölkerung mit ihren Nachrichten zu versorgen.
Die Russen haben offenbar gar kein solches Interesse. Sie sind seit vierzehn Tagen hier und sagen uns gar nichts.
17. MAI, DONNERSTAG
... Der Saal ist überfüllt, die Leute stehen bis in den Garten. Es gelingt mir, in einem Nebenraum Fuß zu fassen, von wo ich zwar die Rednertribüne sehe, aber wenig verstehen kann ... Ich höre eine Stimme, und denke: Goebbels.
Die Stimme sagt gerade: "Es gibt noch Leute, die auf die Amerikaner und Engländer blicken, aber das Licht kommt aus dem Osten." Der pastorale Tonfall, die Betonung der Silben, die Stimmlage - wie Goebbels. Mir ist unbehaglich, und obwohl ich gewillt war, den neuen Leuten zu applaudieren, obwohl ein paar Witze über die Mitschuld jedes einzelnen Nationalsozialisten Beifall verdienen, muß ich immer wieder denken: Goebbels. Phrasen und Versprechungen. Es soll bald Licht und Wasser geben, es soll Brot geben, es soll Fleisch geben, vorerst unentgeltlich, bis das deutsche Geld in alliiertes Okkupationsgeld umgetauscht sei. Es sollen Arbeiter in die Häuser der geflüchteten Naziführer gesetzt werden; es soll, es soll. Ich weiß nicht, wer da redet; ich frage, und niemand weiß es; ich nehme an, der neue Bürgermeister, Herr Nolte. ...
20. MAI, SONNTAG
... Die Nazis sind erledigt, wir können wieder unsere Meinung sagen; auch das haben wir uns immer herrlich ausgemalt, wenn es einmal so weit wäre. Nun ist es so weit, und wir sind ohne einen Funken Fröhlichkeit. Es liegt nicht daran, daß wir Hunger haben, oder daß sich alles in einer bei aller äußeren Dramatik so gänzlich undramatischen Weise vollzogen hat. Es ist auch nicht so, daß wir richtig enttäuscht wären. Ich glaube, in der Hauptsache ist es die Abgeschiedenheit von den Weltereignissen und Nachrichten. Mich droht sie niederzudrücken. Ich glaube, ich werde mich nie mehr davon erholen, daß ich in all diesen Wochen das Wesentliche der Weltgeschichte nicht miterlebt habe. Was ich jetzt haben möchte, sind englische, amerikanische oder Schweizer Zeitungen aus der Zeit nach dem 20. April. Wenn es einmal möglich sein wird, sie zu bekommen - wenn es überhaupt möglich sein wird -, wird über diesen Wochen schon die historische Patina liegen. Ich könnte verzweifeln. Ich vermag nichts anderes mehr zu denken als dies, daß ich nichts weiß. So verlassen wie jetzt bin ich mir zu keinem Zeitpunkt meines Lebens vorgekommen.
22. MAI, DIENSTAG
... Jetzt haben sie es alle schon immer gewußt. ... Aber wer nicht vom ersten Tag an wußte, daß Hitler diesen Krieg verlieren würde, indem er ihn begann, der bedarf auch jetzt sehr der politischen Erziehung. ...
31. MAI, DONNERSTAG
... Ein weiteres Gesprächsthema der Leute, das den Charakter der "Volksgenossen" noch mehr bezeichnet: die Juden. "Die Juden müssen wieder kommen, damit wir zu essen kriegen." Ich fragte ein paar Eisenbahner, die zusammenstanden (auch sie melden sich täglich und werden täglich nach Hause geschickt): "Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?" "Nun", war die Antwort, "die Juden allein können Handel und Wandel schaffen, sie wollen verdienen, und wir haben den Nutzen davon." "So", sagte ich, "abgesehen davon, daß ganz Europa eine Hungerwüste ist und niemand etwas aus dem Ärmel schütteln kann - wie viele von denen, die heute die Juden herbeirufen, haben gestern ihre Massakrierung gebilligt!" "Das war die Verhetzung von oben", sagten die Eisenbahner. "Angenommen, es wäre nur das gewesen - aber ich, der ich keiner Verhetzung erliege, würde mich nach dem Vorgefallenen schämen, heute nach den Juden zu rufen, damit sie mir zu essen schaffen." Sie schauten mich offenen Mundes an. Für Moral fehlt ihnen jedes Verständnis.
Vor sechs Wochen hätte sie noch "Heil Hitler!" gerufen
8. JUNI, FREITAG
Ich schreibe wieder. Ein neues Buch. Nächste Woche will ich zu Fuß nach Berlin. Es ist absurd, daß keine Bahnverbindung nach Berlin zustande kommt. Ebenso absurd, daß der Radius von Berlin nicht mindestens so weit gezogen wird, wie Leute wohnen, die fast ausschließlich in Berlin beschäftigt waren. Richtiger ausgedrückt, was hier herum wohnt, sind im Grunde ja alles Berliner, die aus der Stadt herausgezogen sind.
9. JUNI, SAMSTAG
Heute früh habe ich die große Anschlagtafel "Hier spricht die NSDAP" am Ausgang der Straße niedergelegt. Mit Erlaubnis des Bürgermeisters darf ich die Balken als Brennholz verwenden. Wir können damit an den zwei Tagen kochen - der erste Nutzen, den ich von der NSDAP habe.
Es ist eine "Erfassungsstelle für Antifaschisten" eingerichtet worden. Ich habe mich dort gemeldet. ... Aus der Gemeindeverwaltung habe ich einen jungen Maler namens Robbel kennengelernt. Er macht dort Bürodienst und ist dabei, obwohl Kommunist, nicht glücklich. Er leidet auch unter der Primitivität der Vorgänger und vermißt überall den großen Schwung, den er wohl - noch ohne reifere Erkenntnisse - erhofft hatte. Ich habe ihn gebeten, mich zu besuchen. Je nachdem ich ihn bei näherer Betrachtung finden werde, kann ich ihn vielleicht in dem publizistischen Verlagsunternehmen gebrauchen, das ich mit meinem jetzigen Verleger anstrebe. ...
Jetzt, da die Alliierte Kommission ihre Tätigkeit beginnt, halte ich den Zeitpunkt für gekommen, mich in Berlin nach meinen Freunden umzusehen.
10. JUNI, SONNTAG
Wir sitzen früh auf der Terrasse beim bescheidenen Frühstück: drei Schnitten Brot, dazu etwas Marmelade aus Rhabarber und Stachelbeeren, die meine Frau mit Saccharin gekocht hat. Aber die Sonne strahlt, die Lindenhecke vor der Terrasse ist üppig und dunkel gegrünt, die hohen Birken an der Straße stehen mit ihren regsamen Wipfeln herrlich gegen das Blau des Himmels. Draußen geht ein Mädchen pfeifend vorbei. Und wie laut, wie so aus voller Brust können die "Volksgenossen" jetzt "Guten Morgen" sagen, als hätten sie nie, und das noch vor sechs Wochen, "Heil Hitler" gesagt.
Regers Tagebuch erscheint unter dem Titel "Zeit des Überlebens" im Berliner Transit-Verlag. (160 Seiten, 18,80 Euro, mit einem Nachwort von Andreas Petersen).
Erik Reger - Journalist, Antifaschist, Antikommunist
Erik Reger wird 1893 als Hermann Dannenberger in Bendorf am Rhein geboren. 1915 wird er eingezogen, 1919 aus englischer Gefangenschaft entlassen. Er arbeitet als Pressereferent bei Krupp, ab 1921 veröffentlicht er auch in Zeitungen. Für seinen Roman "Union der festen Hand" erhält er den Kleist-Preis, 1935 werden Regers Bücher von den Nazis verboten. Von 1934 bis 1936 lebt er in der Schweiz. Reger wird 1936 aus der Schweiz ausgewiesen, trotz wiederkehrender Angriffe der NS-Presse kommt er in Berlin im Deutschen Verlag unter. Nach Kriegsende gründen Reger, der Theaterkritiker Walther Karsch und der Kunstwissenschaftler Edwin Redslob den Tagesspiegel. Von der ersten Ausgabe an schrieb Chefredakteur Erik Reger gegen jede Verklärung der NS-Zeit an. Er predigte den Deutschen Buße wegen ihres politischen Versagens: "Solange wir die Fehler bei anderen suchen, solange lebt Hitler weiter." Regers Artikel hatten im Nachkriegsberlin Orientierungswert. Für viele war er das antikommunistische Gewissen der Stadt. Dabei hatte Reger in seinem ersten Leitartikel alle Besatzungsmächte begrüßt, auch die Rote Armee. Die Entscheidungen der Sowjets kommentierte er zunächst neutral, sogar wohlwollend. Ihm ging es um die Erziehung der ehemaligen Nazi-"Volksgenossen". Reger war ebenso scharf in seinem Antikommunismus wie in seinem Antifaschismus. Das Mahlower Tagebuch manifestiert das Weltbild des Chefredakteurs der wichtigsten West-Berliner Nachkriegszeitung, deren Positionen etwa zur Blockade und zum Arbeiteraufstand 1953 die Politik beeinflussten. Reger starb am 10. Mai 1954 61-jährig in Wien, er liegt auf dem Waldfriedhof Zehlendorf begraben, wie auch seine Frau und sein Sohn Manfred.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.
Erik Reger