70 Jahre Zerstörung der Gedächtniskirche: Die Nacht, in der der Turm abbrach
Vor genau 70 Jahren, am 22. und 23. November 1943 wurde Berlin bombardiert wie nie zuvor. Tausende starben. Auch die Gedächtniskirche wurde zerstört. Ein Augenzeuge erinnert sich.
Er radelte gerne in Stadtteile, die schon von Bomben getroffen waren, und sammelte Granatensplitter. „War 1943 ein Hobby für uns 14-jährige Jungs“, sagt Baldur Ubbelohde. „Dass es einen selbst treffen könnte, war unvorstellbar.“
Heute ist er 84 Jahre alt. Vor kurzem hat er seine schlimmsten Erinnerungen an den Krieg aufgeschrieben. Er wollte sie loswerden. Er war schon ein alter Mann, da kamen die Erinnerungen auf einmal hoch und quälten ihn.
1943 hatte er sich freiwillig als Bote zur Verfügung gestellt, um nach Bombenangriffen der Polizei zu melden, wie groß die Schäden sind. Am 22. November traf er sich gegen 19 Uhr mit seinem Einsatzleiter am Kurfürstendamm 235. „Heute brauchste nicht los“, sagte der, „viel zu neblig für einen Angriff.“ Um 19.30 Uhr heulten die Sirenen. Flugzeuge der englischen Royal Air Force leuchteten mit Markierungsbomben Stadtteile grellrot aus. Zu spät, um in die Nürnberger Straße Nr. 1 zu laufen, wo Baldur Ubbelohde mit seinen Eltern und seiner Schwester wohnte. Er blieb im Luftschutzkeller am Kurfürstendamm.
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche brannte lichterloh
Ein unglaubliches Dröhnen, Jaulen und Pfeifen setzte ein, Luftminen, Sprengbomben, Brandbomben, Phosphorkanister detonierten. Fast 800 Flugzeuge warfen ihre Bomben ab. „Mit jeder Explosion hörte man die fremden Menschen im Keller wimmern, alle hatten schreckliche Angst“, sagt Baldur Ubbelohde. Er sagt es stockend und mit Tränen in den Augen. Auch er hatte damals panische Angst, so etwas hatte er noch nie erlebt.
Nach eineinhalb Stunden zogen die Bomber ab. Was war mit den Eltern? Baldur Ubbelohde lief los. Als Erstes sah er die brennende Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die Flammen kamen viele Meter hoch aus dem Kirchenschiff, die Turmspitze war abgebrochen. Der ganze Tauentzien brannte. Es war taghell. In der Budapester Straße versperrte ihm ein Berg aus Trümmern und ein Bombenkrater voller Wasser den Weg. „Ich konnte kaum atmen“, sagt Ubbelohde, „Asche und Staub bliesen mir ins Gesicht.“ Es seien kaum Menschen unterwegs gewesen, sagt er. Das habe seine Panik noch verstärkt. Was war mit den Eltern?
Die Nürnberger Straße Nr. 1 brannte von unten und von oben, aber den Bewohnern war nichts passiert. Seine Eltern und seine Schwester standen fassungslos auf der Straße. Drei Köfferchen waren ihnen geblieben.
In der Nacht zum 23. November 1943 starben 9000 Berliner
In dieser Nacht brannten auch das Schloss und das Rathaus Charlottenburg, es brannten die Tierhäuser im Zoologischen Garten und die Botschaften im Tiergartenviertel, es brannten Häuser am Lützowplatz und das „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz. Auch Unter den Linden loderten die Flammen und auf der Museumsinsel. Mehr als 9000 Berliner starben, 240 000 wurden obdachlos.
Fünf Jahre zuvor hatten die Nazis die Synagogen angesteckt. Drei Jahre zuvor hatten deutsche Bomber die englische Stadt Coventry mitsamt der mittelalterlichen Kathedrale in Schutt und Asche gelegt. Ab 1940 flog die Royal Air Force Angriffe gegen Berlin. Im Frühjahr 1943 wurden die ersten Straßenzüge zerstört. Im November 1943 begann die eigentliche „Schlacht um Berlin“. Rache spielte eine Rolle, aber vor allem sollten die Berliner durch die Angriffe aus der Luft so zermürbt werden, dass sie ihre Führung zur Beendigung des Krieges bringen sollten. Dafür nahmen die englischen und amerikanischen Streitkräfte den Tod vieler tausend Zivilisten in Kauf. Die englischen Bomber kamen nachts, amerikanische Flieger ab 1944 tagsüber. Durch die 363 registrierten Luftangriffe bis zum 2. Mai 1945 starben mehr als 50 000 Berliner.
Als Bertolt Brecht aus dem Exil zurückkehrte, wurde er gefragt, was ihm Berlin bedeute. Er antwortete: „Berlin? Was ist das? Ach ja, es ist der große Trümmerhaufen bei Potsdam.“
Die Gedächtniskirche wurde zum Mahnmal gegen Krieg
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem „alten Turm“ erinnert an die Bombennächte und an die Toten und Heimatlosen. Sie ist zum Mahnmal geworden gegen den Krieg und für Versöhnung. Selbstverständlich war das nicht. Das Kuratorium der Gedächtniskirche um den damaligen Bischof Otto Dibelius und Louis Ferdinand Prinz von Preußen wollten die alte Kirche wieder aufbauen. Anderen gefiel die Ruine besser als ein neoromanischer Protzbau, der für die unheilvolle Verbindung von Thron und Altar stand. Architekten wie Egon Eiermann wollten alles abreißen und einen modernen Bau errichten. Schließlich entschied die Bauverwaltung, indem sie die Genehmigung für den historisierenden Wiederaufbau verweigerte. Egon Eiermann gewann den Architekturwettbewerb und willigte ein, den Ruinenturm in sein modernes Konzept einzubinden.
Pfarrer und Gemeinde beließen es nicht beim baulichen Mahnmal. In den 80er Jahren nahmen sie Kontakt zur Gemeinde in Coventry auf. 1987 brachte der Domherr von Coventry ein „Nagelkreuz“ hierher. Es ist klein und schlicht und steht in der Gedenkhalle des alten Turms. Die Nägel stammen aus der Ruine der Kathedrale von Coventry. Weihnachten 1940, wenige Wochen nach der Zerstörung durch die deutschen Bomben hatte der Probst der Kathedrale seine Mitbürger gebeten, „so schwer dies auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen“. Die Nagelkreuze stehen als Zeichen für den Versöhnungsgedanken heute unter anderem in Dresden, Hiroshima und Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Jeden Freitagmittag beten die Nagelkreuz-Gemeinden weltweit ein Versöhnungsgebet, auch die Gedächtniskirche lädt dazu ein.
47 Berliner Kirchenglocken läuten zum Gedenken
Auch Baldur Ubbelohde hat schon mitgebetet. Als Kind hatte er keinen Bezug zur Gedächtniskirche, außer dass sie halt in der Nachbarschaft stand. Als er die Kirche brennen sah, war das für ihn das Zeichen, dass in diesem Krieg nichts mehr heilig war. „In dieser Nacht wurde die Gedächtniskirche meine Kirche“, sagt er.
Claudia Keller
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