Berlin: Die Mordgedanken des Friedfertigen
Wie Delius am Beispiel der Familie Groscurth deutsche Geschichte erzählt
An der Einfahrt des alten Krankenhauses erinnert eine Gedenktafel an seinen Vater: „Hier, im Krankenhaus Moabit, organisierte Georg Groscurth (27.12.1904 - 8.5.1944) Widerstand gegen nationalsozialistische Unterdrückung. Der Arzt unterstützte unter anderem politisch und rassisch Verfolgte.“ Persönlich kann sich Jan Groscurth nicht an ihn erinnern: „Ich war ja damals erst drei Jahre alt.“ Damals, 1944, als sein Vater von den Nazis im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet wurde.
Heute lebt Jan Groscurth als Rentner am Wannsee. Als Geologe hat er in der Zwischenzeit viele Jahre im Ausland verbracht: Italien, Indonesien, Kanada. Jan Groscurth kann sich gut wiedererkennen im neuen Roman von Friedrich Christian Delius, der sich mit Georg Groscurth befasst. Als Sohn des Arztes und Widerstandskämpfers kommt Jan Groscurth darin ohnehin vor. Doch auch die Figur des Ich-Erzählers, ein Student, der den Nazi-Richter Hans-Joachim Rehse erschießen will, ist ihm nicht fremd. „Ich habe damals auch daran gedacht, ihn umzubringen“, sagt Jan Groscurth. Es erstaunt, wenn ein Mensch, mit dem man an einem Berliner Wintermorgen beim Tee sitzt, plötzlich so etwas sagt. Jan Groscurth ist das Bild eines friedfertigen Menschen: ein sanfter Alt-Achtundsechziger mit randloser Brille und silbernem Bart. In den wilden Jahren war er dabei, früh schon organisiert im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Doch Gewalt war nicht sein Weg. Er hätte niemanden erschießen können. Selbst den Mann nicht, der seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Rehse hatte 1943 das Todesurteil gegen Georg Groscurth mit verhängt. Am Nikolaustag 1968 sprach das Berliner Landgericht Rehse frei. Weil er das Recht nicht gebeugt habe, wie es zur Begründung damals hieß.
Geboren heute vor 100 Jahren, getötet genau ein Jahr vor Kriegsende – von der Biografie Georg Groscurths ausgehend, beschreibt Delius in „Mein Jahr als Mörder“ drei Abschnitte der deutschen Geschichte: Die Nazi-Zeit, in der Groscurth und seine Frau Anneliese zu den wenigen gehörten, die Widerstand wagten. Die frühen Fünfzigerjahre, in denen viele Widerstandskämpfer in der Bundesrepublik verschwiegen oder sogar verfemt wurden. Und die späten Sechziger, in denen westdeutsche Studenten gegen die Generation der Nazi-Väter aufbegehrten.
Diese Rebellion ernüchterte Jan Groscurth schon bald. Er erzählt von der so genannten Schlacht am Tegeler Weg im November 1968. Wie der Kabarettist Dietrich Kittner mit ihm von einem Boot auf der Spree aus die Menge mit einer Flüstertüte agitieren wollte. Und wie sie den Plan fallen ließen, weil zu viel Polizei auf dem Wasser unterwegs war. Das klingt noch alles nach Sponti-Aktion. Als dann aber die Steine auf die überraschten Polizisten niederprasselten und viele verletzten, geriet Jan Groscurth ins Grübeln. Und dann die Prahlerei nach der Randale: „Die taten so, als ob sie einen großen Sieg errungen haben.“ Jan Groscurth wollte da nicht mitmachen.
Trotzdem war die Studentenrevolte eine Befreiung für ihn, ein Ausweg aus der „bleiernen Zeit“, wie Jan Groscurth die Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik nennt. Widerstandskämpfer wie sein Vater, die Juden und Regime-Gegner versteckt und mit falschen Papieren ausgestattet hatten, galten damals nicht als Helden, sondern als Verräter. Die Widerstandsgruppe „Europäische Union“, zu der Georg Groscurth mit seinem Freund Robert Havemann gehörte, hatte im Krieg Flugblätter gegen die Nazis verteilt. Darin hatten sie sich für ein vereintes Europa stark gemacht, geeint in einem demokratischen Sozialismus. In der Bundesrepublik machte sie das verdächtig, zumal Havemann sich zunächst als überzeugter Stalinist in Ost-Berlin in der SED engagierte und erst später zum Dissidenten wurde.
Anneliese Groscurth lebte nach dem Krieg in Charlottenburg, hielt aber Kontakt zu Robert Havemann über die Zonengrenze hinweg. Sie praktizierte als Ärztin und setzte sich mit anderen westdeutschen Intellektuellen für eine Volksbefragung zum Thema Wiederbewaffnung ein. Die DDR unterstützte diese Aktion. Von der „roten Volksbefragung“ und einer „Kommunistenfiliale in Westberlin“ schrieb damals der Tagesspiegel in strammem Frontstadt-Jargon und veröffentlichte auch gleich noch Anneliese Groscurths Adresse. Die Behörden schikanierten die Witwe. Man strich ihr die Hinterbliebenen-Rente, sie bekam keinen Reisepass. In der Schule wurden ihre Söhne stigmatisiert. Jan Groscurth erinnert sich: „Wir dürfen mit dir nicht mehr spielen“ war noch das Harmloseste, was Klassenkameraden damals zu ihm sagten. Erst in den Siebzigerjahren, nach vielen Prozessen, wurden die Groscurths rehabilitiert. Sie erhielten zumindest einen Teil des Geldes, das ihnen zustand.
„Sie hat mit Sicherheit nie Marx gelesen“, sagt Jan Groscurth über seine Mutter, die 1996 im Alter von 86 Jahren starb. Aber sie habe die DDR auch nicht für das schlechtere Deutschland gehalten. Die Tochter eines Industrie-Managers war von ihrer Herkunft her im Westen verwurzelt. Doch die Eilfertigkeit, mit der die Bundesrepublik Deutschland viele Nazis rehabilitierte, stieß die Witwe des Widerstandskämpfers ab. Die DDR war ihr in diesem wichtigen Punkt deutlich näher. Dieses Gefühl hielt an. Bis zum Ende der DDR, über das sich Anneliese Groscurth nicht freuen mochte.
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