TV-Serie "Babylon Berlin": Die Metropole des Tempos und der Exzesse
„Babylon Berlin“ lässt die goldenen 20er wieder auferstehen. Heute feiert die Serie Premiere im Berliner Ensemble. Die Hintergründe.
Berlin ist gar nicht da. Nicht wirklich da. Allenfalls als Schatten seiner selbst. Denn alles, was es an Aufregendem in dieser Stadt gibt, hat es schon einmal viel aufregender gegeben, bevor es versank im Schein nationalsozialistischer Fackelzüge, im Dämmerlicht der aufziehenden Katastrophe.
Übrig geblieben ist ein Mythos. Der vom Berlin der „wilden“ 20er Jahre. Als die Stadt fünftgrößte der Welt war mit 4,3 Millionen Einwohnern, als alles Tempo, Eile, Ungeduld war. „Mit der Uhr in der Hand, mit’m Hut auf’m Kopp./ Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit!“ Als der Hochgeschwindigkeitszug nach Hamburg 98 Minuten benötigte, die U-Bahn im Zwei-Minuten-Takt fuhr und die S-Bahn alle vier Minuten. Als es 128 000 Hungernde in der Stadt gab und sich die neureichen Industriemillionäre prachtvolle Villen in Grunewald bauen ließen.
Aber das löst sich in der Erinnerung auf wie in einem Säurebad. Da sind Partikel, Bruchstücke. „Berlin, Alexanderplatz“, Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Stahlrohrmöbel, Nackttänzerinnen, Kokain und Heroin, Reparationszahlungen, „Emil und die Detektive“, Neonreklamen, „Metropolis“ und „Caligari“, Quantenmechanik, Relativitätstheorie und Dada, Boxen, Sechs-Tage-Rennen, Avus, ein Tanz auf dem Vulkan.
Stichworte – mehr nicht. Das Bild der zwölfjährigen NS-Herrschaft ist vollständiger im Gedächtnis erhalten als das der 15 Jahre, die ihr vorausgingen.
Wie aber war es, in jener verrufenen Zeit zu leben in der Stadt der Lebensgier?
Es gibt wenig, was es einem heute demonstrieren würde. Die Identifikation mit Berlins kreativster Zeit ist gestört durch den Bruch, den der Nationalsozialismus bedeutete. Er setzte sich in der Zerstörung der Stadt 1945 fort, in deren Teilung und über sie hinaus.
Der Regisseur Henk Handloegten ist diesem Bruch als Jugendlicher jeden Tag auf seinem Schulweg begegnet. Er lebte Mitte der achtziger Jahre an der Mauer. Auf der Ostseite. Sein Vater war in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik beschäftigt. „Wenn ich morgens über den Checkpoint Charlie zur Schule nach Tempelhof fuhr“, erzählt er, „kam ich an der Charlottenstraße vorbei, wo die Straßenbahngleise zubetoniert an der Mauer endeten. Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, die Mauer an dieser Stelle hochheben zu können, um die Straßenbahn, die es im Westen gar nicht mehr gab, hindurchfahren zu lassen. Das wäre das Beste gewesen, was mir hätte passieren können.“
Filmemacher sind per se Romantiker. Sie wollen eine Welt entstehen sehen, die es nicht gibt. Das hat die drei Filmemacher Tom Tykwer, Henk Handloegten und Achim von Borries für ein Projekt zusammengeführt, das in diesen Ausmaßen zuvor noch keiner angegangen ist – nicht mal Rainer Werner Fassbinder mit seiner Fernsehadaption von Döblins „Berlin, Alexanderplatz“ (1980). Monatelang saßen sie in einer Wohnung in Prenzlauer Berg an einem Tisch, um an einem uferlosen Drehbuch zu feilen. An den Wänden ein Mosaik aus verschiedenfarbigen Karteikarten, jede Farbe ein eigener Handlungsstrang, jede Karte eine Szene. „Babylon Berlin“, so der Titel, sollte eine TV-Erzählung von der Intensität amerikanischer Serien werden, mit Parallelhandlungen, unerwarteten Plot-Wendungen und einem sich über 16 Folgen horizontal auffächernden Personengeflecht. Immer wieder sei einer von ihnen mit einer weiteren Idee aufgetaucht („So, jetzt habe ich noch eine“), die die anderen beiden zunächst unmöglich fanden („Du kannst den doch jetzt nicht sterben lassen“).
Die Sehnsucht nach Gefühlen aus dieser Zeit ist groß
Das Trio bediente sich dabei eines Stoffs von Volker Kutscher. Der Kölner Autor hat mit seiner Romanreihe über den Kommissar Gereon Rath, einen aus dem Rheinland nach Preußen mehr oder minder strafversetzten Polizeipräsidentensohn, eine umfangreiche und bis heute auf sechs Romane angewachsene Vorlage geschaffen, die mehr über das untergegangene Jahrzehnt aussagt als das meiste, was es sonst gibt. Anfangs bekommt es Rath im Sittendezernat der Hauptstadt mit der „neuen Sexwelle“ zu tun, die der Historiker Walter Laqueur für die Ära diagnostiziert hat. Rath hebt einen Porno-Ring aus. Später schafft er es in die Mordkommission. Damit ist er angelangt im Herz der urbanen Finsternis.
Kutscher hat den Machern von „Babylon Berlin“ freie Hand gelassen. Was die weidlich nutzten. Nun, wenige Wochen vor der Weltpremiere ihres mit großen Erwartungen verbundenen Mammutprojekts, sitzen die drei tief in schwarze Ledersessel versunken im Büro der Produktionsfirma X Filme und reden über die historische Kluft und darüber, wie sie sich die „goldenen Zwanziger“ angeeignet haben.
„Unsere Idee war, so zu tun“, sagt Handloegten, „als sei alles einfach noch da, von dem wir wissen, dass es verschwunden ist.“
„Als habe der Krieg nie stattgefunden.“
„Und wir könnten hinfahren in die unzerstörte Metropole.“
„Die ,Asphaltstadt‘, wie Brecht sie genannt hat.“
„Und wir laufen mit einer Handkamera durch die Straßen.“
„Wir stellen die Straßen nicht aus ...“
„… wie jemand, der sich über die Schönheit einer Kulisse freut.“
„Wir folgen den Leuten in die U-Bahn, steigen mit ihnen wieder aus, überqueren den Alexanderplatz und sind direkt hinter ihnen, wenn sie gegenüber in die ‚Rote Burg‘ gehen.“
Es ist, als würde Handloegtens Traum von der Straßenbahn wahr. Die Sehnsucht nach Gefühlen aus dieser Zeit, als Berlin die coolste Stadt der Welt war, ist groß. Man kann sie in den prall gefüllten Regalen der Buchhändler wiederentdecken, an modischen Reminiszenzen und dem anhaltenden Erfolg des Sängers Max Raabe, der das alte Amüsierbedürfnis aufleben lässt. Denn jetzt ist Berlin wieder cool. Der Ruf vom freien, frivolen Nachtleben zieht wie ehedem jährlich Millionen Touristen an. Die Stadt kommt gar nicht umhin, sich seiner kulturellen Wurzeln zu erinnern. Und da sie als Metropole vergleichsweise jung ist, taugen vor allem die 20er Jahre als Referenz des rasenden Wandels. Sogar ein hingeklotztes Shoppingcenter wie das Alexa wirbt dieser Tage mit dem Schick jenes „goldenen“ Jahrzehnts und zeigt das Konterfei einer im Stil jener Zeit mit Stirnband und Pfauenfeder geschmückten Dame.
Es passt ja tatsächlich alles irgendwie zusammen. Wurde das Alexa doch vor zehn Jahren genau an der Stelle errichtet, an der vormals das Polizeipräsidium gestanden hatte, jene „Rote Burg“ aus Backstein, groß und geheimnisvoll, die 1929 in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Straßenkrawalle sind ausgebrochen mit Dutzenden Toten in der Bevölkerung („Blutmai“). Kommunisten und Nationale radikalisieren sich, wälzen die Schuld auf die anderen ab, viele Zeitgenossen ahnen, dass der kurze wirtschaftliche Aufschwung, der sich amerikanischen Krediten verdankt und die Kriegslasten kompensiert, jederzeit zu Ende sein kann. Die Party findet auf Pump statt.
In dieser Stadt lässt Kutscher einen Zug ankommen. Beladen mit Gold.
„Wir hätten nicht eine einzige Zeile zu Papier gebracht, wenn wir ein Sittengemälde der 20er Jahre aus dem Nichts hätten erschaffen müssen“, sagt Achim von Borries. „Ohne Kutschers Entscheidung für den simpelsten Erzählrahmen, den man stecken kann – da ist Gold in einem Zug versteckt und dieses Gold wollen alle –, hätten wir nicht anfangen können.“
Das Wort und das Verbrechen
Volker Kutscher ist ein bescheidener, groß gewachsener Mann von 54 Jahren, der versonnen im weichen Licht eines Sonnenmorgens in der Hotellobby wartet, vor sich einen Kaffee, viel Milchschaum. Kutscher hat die unscheinbare Präsenz eines ehemaligen Lokaljournalisten, er kann sich unwichtig machen und schnell kombinieren. Er wirft sich einen kleinen Rucksack über die Schulter für einen Gang zur ehemaligen Gerichtsmedizin. „Eigentlich“, sagt er auf dem Weg, „wollte ich ursprünglich nur die Welt von Döblin mit der von Chandler verbinden.“
So einfach dachte er sich das, damals, vor mehr als zehn Jahren. Ein Roman sollte es werden, erst mal nur ein einziger, anknüpfend an die literarische Blütezeit der Detektiv-Geschichte in den 20er und frühen 30er Jahren, als Raymond Chandler und Dashiell Hammett ihre illusionslosen Schnüffler in eine unerbittliche Welt setzten. Aber dann machte Kutscher eine Liste mit historischen Ereignissen, die seine Hauptfigur prägen könnten. Es wurde eine lange deutsche Liste. Und da hatte er plötzlich eine Perspektive und ein Problem.
Er kündigte seinen Job bei der „Kölnischen Rundschau“ und begann mit den Recherchen. Heute führt er in seiner Verweisliste über 180 Titel auf, bedankt sich in Nachworten bei Historikern, von denen er „lernen durfte“. Auch die nachtschwarzen Gemälde von Lesser Ury mit ihren Hochbahntrassen und Flaneuren auf regennassem Kopfsteinpflaster waren ihm eine Inspiration. Er pinnte sich den Pharus-Stadtplan von 1929 an die Wand, studierte Fotobände, um Bilder vom Bau des damals mit US-Krediten in Rekordzeit hochgezogenen Kaufhauses am Hermannplatz zu finden.
Schon früher war er gerne in Zeitungsarchiven verschwunden, um nach längst vergessenen Meldungen und Berichten zu suchen. Er blätterte in alten Ausgaben, um zu sehen, wie teuer ein Auto damals war oder ein Hut, vergaß die Zeit darüber. Denn in dem vergilbten Papier ist der Alltag der Menschen aufbewahrt. Rätselseiten, Witze, Wetterberichte, Werbeanzeigen. Das war, was wirklich interessiert hatte. Die Titelzeilen behandelten oft Reparationszahlungen.
Außerdem stieß er auf das Buch „Der Kommissar vom Alexanderplatz“ von Regina Stürickow, in dem es um Ernst Gennat, genannt „Buddha“, und dessen Aufbau der Zentralen Mordinspektion geht. Sie war die erste ihrer Art. Gennat ließ Mordfälle im Archiv systematisch erfassen und beendete die Unsitte der Berliner Schutzmänner, am Tatort gleich wieder für Ordnung sorgen zu wollen. Er verfügte, dass nichts verändert, die Leiche allenfalls bedeckt werden dürfe, bis die Spurensicherung eintraf.
Schon zu Lebzeiten war Gennat eine Legende und wurde in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ verewigt. Sein Geschick bei Verhören war unübertroffen. Prominente Gäste wie Charlie Chaplin, Heinrich Mann und Edgar Wallace ließen sich in seinem Büro erklären, wie er seine Fälle löste. Seine Aufklärungsquote lag 1931 bei fast 95 Prozent. „Man hätte Gennat gar nicht besser erfinden können“, sagt Kutscher, „als es ihn tatsächlich gegeben hat mit seiner Leidenschaft für Kuchen und der enormen Leibesfülle.“
Wie sollte er vom Verbrechen erzählen, wenn sich wahrhaft Abgründiges auftat?
Wie Kutscher von seiner Entdeckung erzählt, da sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus, er redet schnell wie einer, der eine Quelle angestochen hat und die Öffnung nun nicht mehr zu schließen vermag. Dabei brauchte es lange, um nach der Fertigstellung des Manuskripts 2005 einen Verlag für „Der nasse Fisch“ zu begeistern. Das Schreiben selbst fällt ihm bis heute nicht leicht. Nun hatte er aber die Idee gehabt, seinen Helden im Umfeld Gennats anzusiedeln, also dort, wo jede Spur entdeckt wird, während Rath die Spuren seiner Torheiten ständig verwischen muss, da konnte Kutscher jetzt nicht hoffen, dass es einfach für ihn werden würde.
Sein Hauptproblem ist allerdings anderer Natur. Er berichtet davon in der ehemaligen Schauhalle der Rechtsmedizin in Mitte, die gerade aufwendig saniert wird. Hinter Sperrholzplatten sind die Gerippe jener Kippvorrichtungen zu erkennen, auf denen die Leichen den Angehörigen präsentiert wurden, um danach wieder in den dahinterliegenden Kühlkammern zu verschwinden.
Wie Kutscher jetzt den antiquierten Mechanismus erklärt, wirkt er viel zu nett und heiter, um irgendeinen Genuss aus der Brutalität eines Stoffs zu ziehen, der sukzessive mit dem Terror des Nazi-Regimes verschmilzt. Was könnte brutaler sein, als eine Gesellschaft ins Unglück taumeln zu sehen, die sich dessen nicht bewusst ist?
Anfänglich schreckte Kutscher denn auch zurück vor der Perspektive, die ihm Hitlers Machtergreifung eröffnete, dem Tabu, sich als Unbeteiligter in den Terror des Nationalsozialismus hineinversetzen zu wollen. Wie sollte er vom Bösen erzählen, das sich in gewöhnlichen Verbrechen offenbart, wenn sich wahrhaft Abgründiges auftut?
„Natürlich mussten die Romane vor 1933 enden“, sagte er sich zunächst, merkte aber, dass über die Grenze hinauszugehen, interessanter wäre, auch wenn es ihn als Autor an einen neuralgischen Punkt führen würde. „Das Leben ging ja 1933 auch weiter“, sagt er. „Da war erst mal nur eine neue Regierung. Ein weiteres Präsidialkabinett. Diesmal mit einem Nazi als Kanzler. Was das für die nächsten Jahre bedeuten würde, wussten die Menschen seinerzeit nicht.“
Damit setzte er sich einer Frage aus, die nie befriedigend für ihn beantwortet worden war: Wie konnte sich Deutschland so stark wandeln? Und der neuralgische Punkt an der Sache war: In welche Richtung würde sich sein Held entwickeln?
Kutscher hat stets der arrogante Blick der Nachkriegskinder auf diese Epoche gestört, die Selbstgerechtigkeit der 68er. Er komme auch aus der linken Ecke, sagt er, aber wie sich die antiautoritären Studenten über die moralischen Abwägungen der Vätergeneration erhoben hätten, erschrecke ihn. Mag seine Sprache zuweilen naiv erscheinen und für die Umstände der Zeit zu optimistisch, er schreibt mit seinen Rath-Romanen auch gegen ein Geschichtsbild an, das von den katastrophalen Folgen fälschlicherweise auf die Anfänge schließt. Was heute stattfinde, sagt Kutscher, werde auch irgendwann Geschichte sein. Aber niemand könne vorhersagen, welche von den Gefahren der Gegenwart sich einmal als die größte herausstellen werde – die religiösen Extremisten, die Konzerne oder die Rechtspopulisten.
Er sieht sich selbst schreiend vor Entsetzen
Die Entscheidung, ob Gereon Rath zu den Tätern oder den Opfern zählen wird, hat Kutscher bis heute nicht getroffen. Er arbeitet am vorletzten Band seiner auf acht Bände konzipierten Reihe, die im Jahr 1936 angelangt ist. Mit der Antwort auf die Täter-Frage würde das Urteil gefällt. Über Rath und über einen Menschentypus, der sich scheinbar mit allem zu arrangieren vermag. Noch immer glaubt der, dass die Sache mit den Nazis in wenigen Monaten ausgestanden sei.
Irgendwann muss man sich einer Wahrheit stellen. Kutscher versucht herauszufinden, wann.
In der Auftaktszene von „Babylon Berlin“ – elf Jahre liegt der Erste Weltkrieg da zurück, vier wird es bis zum Machtwechsel dauern – soll Rath seine Augen schließen. Für ein Hypnose-Experiment. Ein Psychotherapeut mit vernarbter Wange schnippt mit dem Finger, redet ihm gut zu, sich zurückzuversetzen an den Punkt, an dem ihm sein Leben entglitten sei. Worauf ihn irgendetwas in seinem Bewusstsein ansaugt, und er sieht sich selbst in einem Kellergewölbe stehen, schreiend vor Entsetzen.
Uli Hanisch veranstaltet gerne ein ähnliches Experiment. Nur dass man dabei die Augen öffnen soll. „Wenn Sie sich in diesem Lokal umschauen“, sagt der Szenenbildner und deutet ins Einstein-Café unter den Linden, zur Mittagszeit gut gefüllt mit Leuten, die graue Anzüge tragen und zu laut reden, „wir müssten nur wenige Dinge verändern, um das Dekor glaubhaft als 20er-Jahre-Kulisse darzustellen.“ Der Sog der Zeit.
Ein Raum und ein Fingerschnippen
Wenn einer Metropolen-Träume umsetzen kann, und dafür nicht mehr als ein Fingerschnippen braucht, dann dieser Mann, Autodidakt und derjenige, der sämtliche Filme von Tom Tykwer eingerichtet hat. Uli Hanisch sitzt also im Lärm geschäftiger Großstädter, in weißem Hemd und Tweedweste, mit wirren Haaren, und guckt einen groß an, während er davon erzählt, wie sich sein Werk sofort wieder in Luft auflöse, wenn er es vollendet habe. Das belustigt ihn auf eine Art, dass nicht mal sein Vollbart es verdecken kann.
Tatsächlich, alles sei wieder weg, was er für „Babylon Berlin“ geschaffen habe, sagt er einige Tage nach der letzten Klappe, 200 Drehtage liegen hinter ihm. Das war selbst für seine Verhältnisse viel. 50 Hauptmotive und 240 Nebenschauplätze waren von seinem Art Department in die Welt zu setzen. Er erinnert sich noch an den „Schock“, den er beim Erstellen der Motivliste empfand. Eine Woche hatte er allein zum Lesen der Drehbücher benötigt, eine Arbeit, die normalerweise an einem Vormittag erledigt war und auf eine Liste über fünf bis sieben Seiten mit Schauplätzen hinauslief, bei einem opulenten Spielfilm. „Hier landete ich bei 27 Seiten. Es brauchte zwei Tage, um mit den Berliner Location-Experten erste Ideen für passende Drehorte zu ermitteln, und da waren wir erst auf Seite acht angelangt. Wir dachten, wir werden verrückt. Wir konnten das nicht schneller durchziehen. Alles, was sonst einen Tag dauerte, nahm mindestens eine Woche in Anspruch. Das war beängstigend.“
Als er und Tom Tykwer sich fragten, was sie an den 20er Jahren besonders faszinierte, da war es, wie Hanisch sagt, „die seltsame Vergleichbarkeit mit heute“. Er lässt seinen Blick schweifen. Man müsste wohl wirklich nur Details im Einstein verändern. „Fast alles, was uns heute prägt, ist in den zehn Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erfunden worden. Aber es geht auch um die Frage, wie fragil eine Demokratie ist. Wie wenig muss passieren, damit eine Gesellschaft sich nicht mehr an sie gebunden fühlt?“
Sie suchten also ein Berlin, das nicht vergangen war, und wurden fündig an Orten wie der Bar Tausend, ein Schlauch unter S-Bahn-Bögen, zum Teil verspiegelt. Supermodern. „Als wir dort drehten, haben wir quasi nur die Beschriftungen geändert. Es funktionierte.“ Für so avantgardistisch werden die Berliner 20er Jahre gehalten, dass in einem asiatischen Restaurant gefrorener Fisch dargeboten wird, Lichtsäulen den Raum dekorieren und die Gäste an Leuchttischen sitzen.
Das gesamte Produktionsteam bezog ein brachliegendes Gebäude in der Mauerstraße. Es war eine Zwischennutzungslösung, weil das Gesundheitsministerium die mit einer Brücke verbundenen Trakte eigentlich für sich beansprucht. Hier richtete Hanisch unter anderem die Rote Burg ein. Denn es gab in dem brachliegenden Verwaltungsbau, was sie suchten: lange, sterile Flure, Konferenzräume, Besprechungszimmer, Türfluchten, kleine Amtsstuben, Treppenhäuser. Sie nutzten das Haus „wie ein Studio“.
Das Büro der Mordkommission, wo die Besten der Polizei arbeiteten, stellten sie sich als Großraumbüro vor, obwohl es dergleichen nicht gab, schon gar nicht bei der Polizei. Aber sie fanden: „Die Mordkommission musste aussehen wie eine Werbeagentur.“
Hanischs Job ist eine Mischung aus Architekt, Schaufensterdekorateur und Psychoanalytiker. Räume passt er so rückhaltlos dem Charakter einer Figur an, dass sie von ihr selbst eingerichtet worden sein müssten. Und zwar nach denselben Prinzipien, nach denen sie ihre Sätze aus dem Drehbuch spricht. Wie etwa jener Chef der Politischen Polizei in Berlin, der ein glühender Vertreter der Republik ist. Er wohnt in einer Villa, in der sich nichts Gründerzeitliches findet, sondern zeitgenössische Möbel und abstrakte Bilder. Seine Welt ist linear und grafisch gehalten, um zu verstehen, dass es sich um einen um Klarheit und Wahrheit ringenden Mann handelt.
Diese Psychologisierung des Raumes hat Hanisch für „Babylon Berlin“ auf eine ganze Stadt angewandt. In Potsdam-Babelsberg entstand für die Außenaufnahmen auf 8000 Quadratmetern eine riesige, permanente Kulisse, die aus vier Straßenzügen besteht und sämtliche sozialen Schichtungen Berlins abbilden soll. Vom bürgerlichen Charlottenburg und dessen herrschaftlichen Häuserfronten über das mediokre Kreuzberg und den verarmten Wedding mit sonnenlosen, feuchten Hinterhöfen bis zur Friedrichstraße mit Bars und Geschäften. 500 Tonnen Stahl wurden verbaut, ein Investitionsaufwand von zwölf Millionen Euro.
Für eines von zwei modernen Gebäuden, ein Kaufhaus, griff Hanisch auf alte Pläne der Stararchitekten Erich Mendelsohn und Peter Behrens zurück. Sie waren nie realisiert worden. In Auftrag gegeben hatte sie der Konfektionshändler Fritz Adam. Er wollte sich an der Friedrichstraße vergrößern. Doch bevor er zur Tat schreiten konnte, emigrierte die jüdische Familie nach London. Darunter auch ein Sohn des Kaufmanns. Der, Ken Adam, sollte später als Designer futuristischer James-Bond-Kulissen und von Kubricks „Dr. Seltsam“-Film Kultstatus erringen. Was Hanisch veranlasst hat, über die Tür des Kaufhauses „Adam und Söhne“ zu schreiben. Er gluckst verschwörerisch bei dem Gedanken an diese Hommage.
Wenn es eine Sache gibt, mit der man den Mann mit der hohen, lustigen Stirn gegen sich aufbringen kann, dann das Wort Pappmaché. "Ich verbitte mir diesen Ausdruck", sagt er dann freundlich, aber entschieden. "Was, bitteschön, ist eine Pappmaché-Kulisse? Es wird überhaupt nichts aus Zellstoff und Kleister gebaut." In der Sprache der Juristen ist das, was Hanisch herstellt, "fliegende Bauten". Für die gibt es eine spezielle Bauordnung. "Errichten sie mal eine acht Meter hohe Fassade aus Pappe."
Dreckigster Szenenbildner Europas
Er ist nicht der Typ Szenenbildner, der mit Zeichenblock und Stift eigene Fantasien umzusetzen versucht. Als gescheiterter Graphikdesign-Student, der vor der Langeweile Zuflucht in den Filmprojekten von Christoph Schlingensief suchte, ist er eher der Macher. "Das deutsche Kettensägenmassaker" war sein erstes Szenenbild. Danach machte er die Helge-Schneider-Filme und baute für "Praxis Dr. Hasenbein" erstmals eine Straßenkulisse auf.
Hanisch ist seither mit Filmpreisen überhäuft worden und hat sich den Ruf erworben, der dreckigste Szenenbildner Europas zu sein. Seit er für „Das Parfüm“ ein mittelalterliches Paris auferstehen ließ, in dem der Schmutz skulptural wurde, sich aus dem Boden an den Fassaden hochzog und wie eine Kruste über alle Dinge legte, hat sich der Dreck in seinem Arbeitsleben festgesetzt.
Das ist so eine Eigenart des Drecks, dass er nicht mehr verschwindet.
Auch das babylonische Berlin sollte dreckig aussehen und das überlieferte Bild von der Champagner-Gesellschaft brechen. In einer Babelsberger Werkhalle beschäftigte Hanisch sich intensiv mit dem Alterungsprozess von Putz, ließ Verwitterungsgrade testen, um zu begreifen, auf welche Art Regenwasser von Fenstersimsen abtropft und in die Fassade sickert. Dreck, sagt Hanisch, sei eine Schutzschicht. Eine Vorsichtsmaßnahme der Dinge sich selbst gegenüber.
Das komplette Bild
In einer frühen Szene in „Babylon Berlin“ sieht man Gereon Rath apathisch zitternd auf der Herrentoilette des Polizeipräsidiums liegen. Eingekeilt im Schmutz von Pissoir und Seitenwand. Epileptische Stöße durchzucken ihn. Erst als den Hilflosen seine spätere Freundin Charlotte Ritter entdeckt und ihm den Inhalt einer Ampulle in den Mund träufelt, hört das Schütteln auf.
Der Held selbst ist also, und damit verrät man nicht zu viel, einer jener Kriegsversehrten, die es zuhauf in der Weimarer Republik gab. Drogen halten ihn in der Bahn. Wenn er einen Verdächtigen über Dächer hinweg verfolgt. Wenn er in einer Spelunke tanzt. Wenn er Jazz hört. Und wenn er sich morgens den Hut aufsetzt, um sein Zimmer zu verlassen, nicht ohne nachzusehen, ob genügend Ampullen in seinem Etui ihn durch den Tag bringen werden. Er nickt stumm, als einmal von den kaputten Maschinen die Rede ist, in die sich die früheren Kameraden verwandelt hätten.
So schildert „Babylon Berlin“ eine Epoche zwischen Traumatisierung und Aufbruch, durch Verletzungen gebunden an den Krieg und von dem wilden Willen angetrieben, sich davon zu lösen. Es dürfte das Bild, das man sich von Berlin macht, auf Jahre hinaus prägen. Umso mehr vielleicht, als die Macher Nähe nicht durch Stilisierung herzustellen suchen, sondern „durch ein Lebensgefühl“, wie Tom Tykwer es ausdrückt. Es gebe Momente, meint er, in denen jemand einfach nur das Fenster öffne und den Geruch der Stadt in sich aufnehme.
Als er das Projekt erstmals mit möglichen Produzenten erörterte, war deren erste Reaktion, dass man es bei den benötigten Summen nur auf Englisch drehen könne. Sonst würde ihnen das niemand auf der Welt abnehmen. Da wollten Tykwer und seine Mitstreiter es lieber nicht machen. Mit dieser Entscheidung wurde es ein Projekt „für uns“, wie Tykwer sagt.
Wenn sie gefragt würden, welche US-Serie ihnen als Vorbild gedient habe, sagen sie „Heimat“ von Edgar Reitz. Keine US-Serie. Sondern das sehr genau beobachtete Schicksal eines Bergarbeiterdorfs im Hunsrück - so deutsch wie ein Film nur sein kann. Die ganze Welt wollte ihn sehen.
Sollte es für "Babylon Berlin" zu einer Erfolgsstory kommen und weitere Staffeln in Angriff genommen werden können, verdankt sich das wohl diesem Beharren auf einer „eigenen Welt“. Mit eigenen Redewendungen („Soll ich’s dir in die Stirn kämmen?“), Tanzbewegungen, Begrüßungsritualen, Drogen und Moden und undurchschaubaren Charakterköpfen. Mit Blick auf den Reiz dieser imaginären Vergangenheit spricht Tom Tykwer jedenfalls vom „Amalgam des Vielen“, das ihn hervorrufe. Und viel gibt es von Vielem zu sehen. Nicht mal sie selbst wüssten manchmal, sagen die Regisseure, wer welchen Teil einer Szene gedreht habe, da sie sich die Arbeit nach Motiven und nicht nach Handlungssträngen aufgeteilt hätten. So setzt sich das Bild aus verschiedenen Handschriften zusammen, mehr, als man aufnehmen kann.
Wir sollen überfordert werden. Die Menschen damals waren es auch.
Am Donnerstag feiert die Serie von Tom Tykwer, Henk Handloegten und Achim von Borries Weltpremiere im Berliner Ensemble. Die Ausstrahlung der 16 Folgen beginnt am 13. Oktober auf Sky (20.15 Uhr). Jede Folge ist 45 Minuten lang. Die Serie wurde produziert von X Filme, Sky, ARD Degeto und Beta Films.
Kai Müller