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Wolfram Hartmann, 69, ist Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
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Kinderschutz: „Die Kontrolle muss eng sein, anders geht es nicht“

Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, über unzulängliche Gesetze und seinen Termin bei der Familienministerin.

Wolfram Hartmann, 69, ist Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er engagiert sich für klarere gesetzliche Regelungen im Kinderschutz und für die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz.

Herr Hartmann, zwei Berliner Gerichtsmediziner kritisierten Ihren Berufsstand dafür, dieser käme in Kinderschutzfällen öfter seiner Meldepflicht nicht nach. Doch im Kinderschutzgesetz gibt es keine Meldepflicht für Kinder- und Jugendärzte, und auch nicht für die anderen Berufsgruppen aus Kindergarten, Schule oder Jugendhilfe.

Es gibt eine Meldepflicht, in dem Fall, wo eine Kindesmisshandlung offensichtlich ist. Und es gibt diese nicht in den Fällen, wo man einen vagen Verdacht hat. Es sollte Pflicht sein, sobald Gefahr in Verzug ist, sobald es Anzeichen gibt. Das sollte für alle Berufsgruppen gelten, denen Kinder anvertraut sind. Für die vagen Verdachtsmomente gibt es aber keine klaren Kriterien. Wir müssten die Möglichkeit haben, mit anderen Professionen Kontakt aufzunehmen, um einen Verdacht zu entkräften oder zu erhärten; das bedeutet im Klartext, dass wir das ohne die Zustimmung der Eltern tun dürfen – und diese Möglichkeit fehlt bislang im Kinderschutzgesetz.

Diese Grauzone zwischen ganz klarem Verdacht und Bauchgefühl ist also nicht abgedeckt? Das ist ja eine ganz breite Palette. Ja, das ist der Alltag. Manche Ärzte sind auch frustriert, wenn sie einen klaren Verdacht dem Jugendamt gemeldet haben und dann überhaupt keine Rückmeldung bekommen, was aus dem Fall geworden ist. Das Jugendamt ist nicht verpflichtet, mit dem, der meldet, wieder Kontakt aufzunehmen, nicht einmal wenn es sich um jemanden vom Fach handelt, der mit Kindern zu tun hat. Das wäre wichtig. Das hat etwas mit Qualitätssicherung, mit vertrauensvoller Zusammenarbeit zu tun. Das vermissen wir, das verlangen wir, auch demnächst im Gespräch mit der Bundesfamilienministerin.

Die deutsche Gesetzgebung war schon öfter Gegenstand einer EU-Kommission für Kinderschutz, die feststellt, Deutschland habe hier seine Hausaufgaben nicht gemacht.
In den anderen EU-Staaten haben die Kinderrechte einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Bei uns geht Elternrecht vor Kinderrecht, und das muss sich ändern. Das ist es auch, was die Bundesfamilienministerin und eine große Gruppe von Bundestagsabgeordneten fordern, aber eben nicht die Mehrheit. Insbesondere viele Abgeordnete der CDU/CSU sind dagegen.

Die Christdemokraten befürchteten in den Koalitionsverhandlungen, dass der Begriff der Familie dadurch entwertet werden könnte und die Elternrechte zu sehr eingeschränkt werden.
Das ist die heilige Kuh Familie. Man meint, die Kinderrechte seien schon ausreichend im allgemeinen Grundrecht geschützt, aber die Erfahrung zeigt, dass das nicht so ist, dass Eltern ihre Kinder als Besitz begreifen können, dass Kinder als Objekte behandelt werden können und nicht als Subjekte mit eigenen Rechten. So dürfen Eltern ihren Kindern den Impfschutz gegen übertragbare Erkrankungen vorenthalten, das geht in unseren Augen auch nicht und widerspricht auch der UN-Kinderrechtskonvention.

Wo sind Lücken in der Praxis im Kinderschutz?
Vieles, was in den Jugendämtern scheitert, scheitert an der mangelnden personellen Ausstattung. Die haben nicht das Personal, um die Fälle engmaschig zu überwachen. Eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichem Gesundheitsdienst und Kinder- und Jugendhilfe ist vielfach nicht gewährleistet. Es sollte überall verpflichtend einen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst geben, der mit in die Familien geht und einen Eindruck vom Gesundheitszustand der Kinder gewinnt, das kann ein Sozialarbeiter nicht. Aber auch hier wurde das Personal so gekürzt, dass dies nicht möglich ist. Früher gab es auch beim Gesundheitsamt Sozialarbeiter und Familienfürsorger, die auf einen Stadtteil bezogen waren, die Problemfamilien kannten und mit den Ärzten zusammenarbeiteten.

So etwas nennt man jetzt Sozialraumorientierung. Es soll mit der Geburt eines Kindes beginnen.
Ja, und die Familienhebammen, die im Kinderschutzgesetz vorkommen, sind der Kinder- und Jugendhilfe unterstellt und nicht dem Gesundheitsamt – auch so ein Webfehler. Es bedarf aber medizinischer Fachkenntnisse, um die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen zu beurteilen, diese Expertise hat das Gesundheitsamt.

Was halten Sie von den vielen freien Trägern in der Kinder- und Jugendhilfe?
Das entzieht sich völlig der staatlichen Kontrolle. Dann kommt es eben zu diesen Vorfällen in Heimen oder Pflegefamilien, die nicht ausreichend kontrolliert werden. Staatliche Kontrolle bedeutet auch wesentlich mehr Sanktionsmöglichkeiten. Die Kontrolle muss eng sein, anders geht das nicht, das Kindeswohl muss im Vordergrund stehen – und nicht das wirtschaftliche Interesse eines Trägers. Gerade in Berlin gibt es ein riesiges Angebot in der Jugendhilfe, während die ländlichen Regionen unterversorgt sind.

Sollte es auch eine fachliche Kontrolle der Jugendämter selbst geben?
Ja, natürlich.

Immer noch ist die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in starkem Maße von der sozialen Herkunft und dem Bildungsstand der Eltern abhängig, das belegen alle Studien dazu. Was würden Sie sich für den Bereich Kindergarten und Schule wünschen?
Da hapert es im Moment noch sehr. Wir reden in diesem Zusammenhang von primärer Prävention, also der Verhinderung von Krankheiten, und nicht vom Management von Krankheit, was wir zurzeit bei den Kindervorsorgeuntersuchungen machen. Wir wollen durch eine Optimierung der Lebensumstände, etwa der Ernährung, durch Bewegungsanreize, Förderung von Sozialverhalten und Sprache erreichen, dass alle Kinder sich entsprechend ihren Fähigkeiten entwickeln können. Kinder sollten in einer Kindertagesstätte so gut gefördert werden, dass sie schulfähig sind. Das sind zu viele Kinder nicht.

Müsste sich dann in der Ausbildung der Erzieher nicht sehr viel ändern?
Das wird schon lange gefordert, und dann müssten sie auch anders bezahlt werden. Dieser Bereich darf kein Betreuungsangebot bleiben, sondern sollte ein Bildungsangebot werden. Die Bildung beginnt nach politischer Interpretation erst im Schulbereich, sie muss aber schon im Vorschulbereich beginnen.

Es gibt den Begriff einer „neuen Morbidität“, was ist damit gemeint?
Es gibt Kinder, die unbestimmte Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen haben, die über Atemnot klagen, obwohl organisch nichts zu finden ist, die verhaltensauffällig sind, Kontaktprobleme mit anderen Kindern haben, die in ihrer Sprachentwicklung weit zurück sind, die nicht in der Lage sind, im Alter von vier Jahren auf einem Bein zu stehen. Es gibt einen Anstieg von Adipositas und Diabetes, Entwicklungen, die ich aus meiner früheren Berufspraxis so nicht kenne.

Könnten da nicht auch die Jugendämter über die sozialpädagogische Diagnose eine gute Evaluation abliefern?
Ja, in Verbindung mit dem jugendmedizinischen Dienst, der Tests macht, ob ein Kind altersgerecht entwickelt ist. Das Gesundheitswesen und die Kinder-und Jugendhilfe arbeiten aber nebeneinanderher und sind überhaupt nicht vernetzt. Das wird den Anforderungen nicht gerecht. Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung hat dazu bereits 2009 Grundforderungen aufgestellt, die bis heute nicht erfüllt sind.

Deutschland gibt 5,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Kitas, Schulen und Universitäten aus, im Sozialbereich sind es 3,16 Prozent – 115 Milliarden Euro im Jahr. Wie empfinden Sie diese Gewichtung?
Es gehören mehr Gelder in die frühkindliche Bildung, dann kann man sich das später in den anderen Bereichen sparen. Eine Studie aus den USA hat über 40 Jahre das Leben von Kindern verfolgt, die aus sozial schwachen Familien kamen, und die in der frühkindlichen Phase geförderten Kinder mit den nicht geförderten verglichen. Der Unterschied ist extrem.

Warum findet das politisch keine Umsetzung?
Das Wohl von Kindern und Jugendlichen steht im Moment nicht auf der politischen Agenda. Aber damit verschleudern wir unsere Zukunft. Auf der Agenda stehen im Moment die Pflege, das Alter und multimorbide Patienten. Ich war heute hier in Berlin auf einer Veranstaltung des Bundesgesundheitsministeriums, die den Bericht des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen vorgestellt hat. Darin sind Kinder und Jugendliche nicht vorgekommen.

Wie schätzen Sie das ein?
Das ist schlimm, dazu habe ich heute schon eine Pressemitteilung herausgegeben. Das geht einfach nicht. Kinder und Jugendliche machen über 20 Prozent der Bevölkerung aus, und ihre frühe Gesundheitsförderung entscheidet ganz wesentlich über die späteren Kosten im Gesundheitswesen. Auch ein Präventionsgesetz kommt seit zwei Legislaturperioden nicht zustande, weil man sich über Inhalte und Kostenverteilung nicht einigen kann. Gesundheitsministerium und Familienministerium müssen hier eng zusammenarbeiten. Es geht da leider oft um politische Selbstdarstellung und nicht um Inhalte.

Am 30. Oktober haben Sie einen Termin mit der Familienministerin Manuela Schwesig. Könnte sie etwas bewegen?
Frau von der Leyen hat gezeigt, dass man als Ministerin etwas bewegen kann. Sie hat eine zusätzliche Vorsorge mit drei Jahren durchgesetzt, weil sie das wollte. Bei Frau Schwesig kann ich erst nach dem Gespräch sagen, ob wir da an einem Strang ziehen oder nicht. Ich werde hinterher beobachten, ob sie das in politisches Handeln umsetzt.

Was erhoffen Sie sich von dem Gespräch?
Dass sich die Kinder- und Jugendhilfe mehr engagiert in der Überwachung und Ausgestaltung der frühen Hilfen. Dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Dass wir einen Kinderschutzbeauftragten im Bundestag bekommen, analog dem Wehrbeauftragten, und dass bei allen Gesetzen geprüft wird, ob die Belange der Kinder berücksichtigt wurden. Das ist derzeit nicht der Fall.

Interview: Barbara Schönherr.
Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

Barbara Schönherr

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