Kriegsende vor 75 Jahren: Die Kapitulation Berlins
Die Kapitulation Berlins am 2. Mai 1945 aus dem dokumentarischen Roman "Finale Berlin" von 1948 von Heinz Rein.
1948 erschien im Dietz Verlag Berlin mit Lizenz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland der Roman "Finale Berlin" von Heinz Rein. Er spielt im April 1945 - mit einem Epilog zur Kapitulation Berlins am 2. Mai. "Von einem Augenzeugen wird hier die einmalige, unvergeßliche Atmosphäre des sterbenden Berlin im April 1945 wiedergegeben", heißt es im Klappentext der Ausgabe von 1948. "Nichts ist übertrieben, kein Haß verzehrt die Darstellung. Es ist ein Buch der Tatsachen. Der Autor ließ die Geschehnisse sprechen - die Folgerungen zu ziehen sei Sache der Lesenden", heißt es am Ende. Die Presse in Ost und West feierte den Roman 1948. "Grauenhaft echt ist das Berlin geschildert, das sein Finale erwartet", urteilte der "Nachtexpress" Berlin am 3. Juni 1948.
2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung legte der Verlag Schöffling & Co das Buch noch einmal neu auf. "Man muss dieses zwischen Dokument und Kolportage changierende Buch lesen, um die ganze Wucht und Grausamkeit jener Wochen zu begreifen", schrieb Christian Schröder zur Neuauflage im Tagesspiegel. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags drucken wir den Epilog des Romans ab, der die Kapitulation Berlins am 2. Mai beschreibt. Rolf Brockschmidt
[Aus: Heinz Rein - FINALE BERLIN. Copyright Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2015. 760 Seiten. 24,95 Euro.]
Das Ende
"Von hier und heute geht eine neue
Epoche der Weltgeschichte an, und
ihr könnt sagen, ihr seid
dabeigewesen."
Goethe nach der Kanonade von Valmy (1792)
2. Mai Es ist 5 Uhr 30 Minuten, die Strahlen der aufgehenden Sonne durchstoßen die Wolkenwand, die sich grau und trostlos über der vernichteten Stadt spannt. In der Voßstraße, Verbindung zwischen Wilhelmplatz und Hermann-Göring-Straße, bewegt sich eine massive Decke langsam in die Höhe, sie hebt sich schwerfällig und widerwillig wie eine Zugbrücke, die den Zugang zu einer besiegten Burg freigibt. Diese Betondecke, die in der Voßstraße durch hydraulische Kraft hochgepreßt wird, öffnet den Eingang zu einer Höhle, zur letzten Befehlsstelle des letzten Berliner Kampfkommandanten. Sie ist von allen Seiten umstellt, ein Kommando russischer Offiziere hat vor ihr Aufstellung genommen, sie heben die entsicherten Maschinenpistolen und bringen sie auf den Bunkereingang in Anschlag, aber sie haben nicht nötig, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, denn als erster erscheint ein Soldat, unrasiert, zerlumpt, ausgemergelt, und er trägt an der Spitze seines aufgepflanzten Bajonetts einen Fetzen weißen Tuches. Dann erst erscheinen die anderen, General der Artillerie Weidling, Oberbefehlshaber des Verteidigungsbereiches Berlin, in untadeliger Uniform, mit hochgeschlossenem Kragen und Ritterkreuz, goldenen Achselklappen mit zwei Sternen und Ordensschnalle, und nur die unordentlich umgeschlagenen Wickelgamaschen verraten die besondere Eile, mit denen er sie angelegt hat, Ministerialdirektor Hans Fritzsche, Goebbels’ junger Mann und Imitator in Wort und Ton, in elegantem Anzug von tadellosem Sitz und scharfer Bügelfalte, und schließlich der Hauptschriftleiter Dr. Otto Kriegk, intellektueller Stimmungs- und Scharfmacher des Hugenberg-Konzerns, in der olivgrauen Uniform eines Arbeitsdienstführers mit silbergeflochtenen Schulterstücken. Für ein paar Sekunden stehen sie still da und blinzeln wie Nachtvögel in das über sie hereinbrechende Licht, dann steigen sie schwerfällig in einen Panzerspähwagen, der einige Meter weiter bereitsteht. Die Türen werden geschlossen, der Panzer fährt an, biegt in die Hermann-Göring-Straße ein und überquert den Potsdamer Platz, er schreit seine heiseren Signale durch die zertrümmerten Straßen, durchrast die Saarlandstraße, vorbei an den schauerlichen Skeletten des Potsdamer und Anhalter Bahnhofs, prescht durch das Hallesche Tor und die Anhöhe der Belle-Alliance-Straße hinauf nach Tempelhof. Der Panzer fährt rücksichtslos über Trümmer und durch Schlaglöcher, er rüttelt seine Insassen durcheinander und stößt sie gegen Wände und Decken, aber keiner sagt ein Wort, sie haben die Lippen fest zusammengekniffen und die Augen halb geschlossen, der General nimmt hin und wieder seine Brille ab und reibt sie blank, der Rundfunklügner nestelt nervös an seiner Krawatte, der Leitartikelschmierer ist ganz in sich zusammengesunken.
Dann bremst der Wagen hart, die Türen werden aufgerissen, General Weidling, Fritzsche und Dr. Kriegk steigen aus, sie stehen vor einem Haus am Schulenburg-Ring, einer der vielen Straßen Tempelhofs, an der sich die Neubauten einförmig aneinanderreihen. Sie steigen langsam die Treppen hoch, durch die leeren Fenster des Treppenhauses weht ein unangenehmer, feucht-kalter Wind, die Sonne ist hinter grauen Wolken verschwunden, ein feiner Regen beginnt herabzusprühen. Der General wirft einen flüchtigen Blick auf die Straße, dann betritt er eine Wohnung im ersten Stock, wird durch einen Korridor geleitet und steht in einem Zimmer. Es ist ein gutbürgerliches Herrenzimmer mit Schreibtisch und Bücherschrank, Ledersofa und einem Stilleben darüber, ein paar Stühlen und einem Aktenbock, ein gutbürgerliches Herrenzimmer, aber da sitzt hinter dem Schreibtisch kein glatter Bürger, da ist ein mittelgroßer, kräftiger, untersetzter Mann, mit breitflächigem, gerötetem Gesicht, hellem, kurzem borstigem Haar, wasserblauen, entschlossenen Augen: Generaloberst Shukow, der Eroberer Berlins. Er erhebt sich kurz, deutet auf einen Stuhl und setzt sich wieder. General Weidling führt die Hand korrekt an die Mütze und nimmt sie ab, läßt sich müde nieder und blickt seinem Gegenüber verstohlen ins Gesicht. Dieser Shukow, mag er jetzt denken, das ist kein General von Geblüt, Erziehung und Privileg, das ist ein breiter, fast behäbiger Bauer, der eine Generalsuniform trägt, ein Mensch jenes unbegreiflichen Landes, er sitzt jetzt in dieser kleinen, fast spießbürgerlichen Wohnung in Berlin-Tempelhof hinter einem Schreibtisch und schiebt in diesem Augenblicke die Kapitulationsurkunde über die Schreibtischplatte. Der Schreibtisch ist sonst ganz leer, nichts unterbricht seine glatte, hellbraune Maserung, nur dieses weißen Blatt liegt da.
General Weidling schluckt ein paarmal heftig, reibt noch einmal seine Brille blank und schraubt seinen Füllfederhalter auf, seine Hände zittern dabei ein wenig, er setzt zur Unterschrift an, aber er zieht die Feder wieder zurück, ihm ist wohl eingefallen, daß er zwar den Inhalt der Urkunde, nicht aber ihren Text kennt, überliest sie flüchtig und senkt die Feder erneut auf das Papier. Es ist sechs Uhr morgens und ganz still im Zimmer, die Stenotypistin am Fenster hat ihre Arbeit unterbrochen und sich umgewandt, die russischen Offiziere beugen die Köpfe vor, selbst Fritzsche und Dr. Kriegk können sich der Spannung des Augenblicks nicht entziehen, nur Generaloberst Shukow sitzt ruhig, zurückgelehnt da, seine Augen ruhen auf der Hand des deutschen Generals, die den Füllhalter hält. Der General scheint die Blicke zu fühlen, er hebt die Augen für eine Sekunde und blickt dann selbst auf seine Hand, die mit der Feder halb zur Faust geschlossen wie eine wurmstichige Frucht vor ihm liegt, dann feuchtet er seine Lippen an und schreibt entschlossen seinen Namen unter die Urkunde. Berlin hat kapituliert.
Wenige Worte nur werden gewechselt, dann verläßt der General das Zimmer, er geht die Treppen schnell hinunter und kümmert sich nicht um seine Begleiter, er hat noch einen Auftrag, den er möglichst schnell hinter sich bringen will, und besteigt wieder den Panzerspähwagen. Diesmal wird die Tür nicht ganz geschlossen, der General vermag durch den offenen Spalt auf die Straßen zu sehen, die sie durchfahren, und er sieht die endlosen Kolonnen marschierender Rotarmisten, Rudel von Panzern, Batterien aufgefahrener Artillerie, Biwaks und die langen Reihen der Geschlagenen, die stumpf in die Gefangenschaft trotten, er sieht auch die dampfenden Feldküchen, die von der Bevölkerung umlagert werden, und die Lastwagen, zu denen sich die Hände nicht mehr zum Führergruß, sondern nach Brot emporrecken, das die Soldaten der siegreichen Armee verteilen. Die Fahrt geht diesmal nach Johannisthal, in einem früheren Filmatelier steht der General vor einem Schallplattenaufnahmegerät, und hier spricht er seinen letzten Befehl auf eine Wachsmatrize:
"Berlin, den 2. Mai 1945 Am 30. April 1945 hat der Führer uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen. Auf den Befehl des Führers glaubt ihr noch immer, um Berlin kämpfen zu müssen, obwohl der Mangel an schweren Waffen, an Munition und die Gesamtlage den Kampf als sinnlos erscheinen lassen. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der sowjetischen Truppen fordere ich euch daher auf, sofort den Kampf einzustellen. Weidling Verteidigungsbereich Berlin."
Heinz Rein