Berlin: Die höfliche Kapitulation in Spandau
Im neuen Mantel und per Strickleiter kletterten die Sowjets in die Zitadelle. Es folgte die Übergabe
Kapitulationsverhandlungen sind auch eine Stilfrage. Niederlagen fallen Verlierern leichter, wenn der Sieger in tadellosem Äußeren auftritt. In der Roten Armee gab es sogar teilweise die Order, dass Parlamentären eine neue Uniform zu geben sei – ein Problem für Hauptmann Wladimir Gall, der sich mit Major Wassili Grischin am Vormittag des 1. Mai 1945 auf den Weg macht, die Besatzung der Zitadelle Spandau zur Übergabe zu bewegen. Sein eigener Mantel hat zwei Jahre Fronteinsatz hinter sich, ein Kamerad hilft aus – mit einem guten Stück, „nicht mehr fabrikneu“, aber „aus bestem englischen Tuch – eine Lieferung unserer Verbündeten, und wir nannten ihn scherzhaft ,Churchill-Mantel’“, so Hauptmann Gall.
Mit der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Schukow war Gall, Mitglied einer Propagandaabteilung, Richtung Berlin gezogen. In Bernau war sein Kamerad Leutnant Konrad Wolf am 22. April zum provisorischen Stadtkommandanten ernannt worden, eine Episode, die Wolf – wie auch die Kapitulation der Zitadelle – 1966 in seinen Defa-Film „Ich war neunzehn“ einwob. Am 27. April hatte die 47. Armee Spandau erreicht und die Altstadt besetzt, zog dann nach Brandenburg. Die Zitadelle hatte man umgangen. Einen Frontalangriff wollte die Armeeführung vermeiden, zudem hatten Hunderte von Zivilisten, Alte, Frauen und Kinder, Zuflucht in der Festung gesucht. Galls Einheit wurde befohlen, mit der Besatzung über eine Übergabe zu verhandeln. Wie Jo Brettschneider, damals Leutnant auf der Zitadelle, berichtet, bestand diese vor allem aus Resten einer Volkssturmkompanie sowie Wissenschaftlern in Uniform, Mitarbeitern des Heeresgasschutzlaboratoriums, das seit 1936 auf der Zitadelle untergebracht war.
Von den Kapitulationsverhandlungen gibt es unterschiedliche Versionen: In dem Buch „Mein Weg nach Halle“ (1988, Militärverlag, DDR) schildert Gall, wie am 30.April zunächst mit einem Lautsprecherwagen versucht wurde, die deutschen Soldaten zur Übergabe zu bewegen. Auch Flugblätter werden abgeworfen, Einwohner Spandaus als Parlamentäre zum Tor geschickt – vergebens. So beschloss Major Grischin, es am 1. Mai selbst zu versuchen, mit Hauptmann Gall, der sich als Dolmetscher gemeldet hatte: Mit weißer Fahne, Gall mit neuem Mantel, machten sich die Parlamentäre auf den Weg zum verbarrikadierten Zitadellentor. Davor stand ein zerschossener „Tiger“-Panzer, oben ragten Maschinenpistolen aus Schießscharten. Eingeleitet wurden die Verhandlungen von Gall mit einem schlichten „Hallo“, Ausdruck von Unsicherheit, Erregung, Angst, die allzu berechtigt waren. Oft waren Parlamentäre trotz Fahne niedergeschossen worden. Diesmal entspann sich aber ein höfliches Gespräch, besonders als der Kommandant und sein Stellvertreter per Strickleiter zu den beiden Russen herabkletterten. Er würde ja kapitulieren, erklärte der Kommandant, müsse aber mit Widerstand seiner Offiziere rechnen. Die Russen schlugen vor, selbst hinaufzuklettern und zu verhandeln. So geschah es, ein zähes Ringen, das auf ein Ultimatum hinauslief. Entweder kapituliere die Zitadelle bis zum Nachmittag, oder sie werde angegriffen. Das wirkte. Die Festung wurde ohne einen Schuss übergeben. Die Männer kamen in Kriegsgefangenschaft, die Zivilbevölkerung konnte abziehen.
In der Erinnerung des Leutnants Brettschneider, der heute bei Wuppertal lebt, stellt sich die Episode etwas anders dar. Seine Einsprüche gegen Gall waren vor zehn Jahren so massiv, dass das Bezirksamt sich entschloss, beide Versionen auf Tafeln in der Ausstellung im Kommandantenhaus wiederzugeben. Mittlerweile haben die Männer sich getroffen und sogar angefreundet, die unterschiedlichen Erinnerungen sind nicht länger Konfliktstoff. Bei Brettschneider fehlt die Kletterpartie von Zitadellenkommandant und Stellvertreter, dafür schildert er ein Gefecht vor der Festung in den Tagen vor der Übergabe, berichtet auch von einem Kameraden, der vor der Kapitulation die Umgebung durchstreifen durfte, um die hoffnungslose Situation bestätigt zu bekommen. Er selbst sei mit einem weiteren deutschen Offizier zu den Russen gegangen, um die Details auszuhandeln.
An die Zusagen haben sich die Russen gehalten, wie die Spandauerin Gisela Nürnbach bestätigt. Ihr Vater war Fahrer des Kommandanten der Zitadelle, sie hat die Kapitulation als 15-jähriges Mädchen erlebt. Zwar gab es in den wenigen Tagen, die die Zivilisten noch dort blieben, unheimliche Situationen, als die Russen nachts durch die Räume streifen auf der Suche nach Alkohol („Ich sehe, wie einer sogar eine kleine Flasche Kölnisch Wasser austrinkt“), doch kann Gisela Nürnbach die Sieger nur loben: „Es hat in der Zitadelle meines Wissens keine Übergriffe gegeben. Die russischen Soldaten gehören einer Eliteeinheit an und benehmen sich mustergültig.“
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