Tödlicher Messerstich: Die Härte eines Neuköllner Nachmittags
Auf einem Fußballplatz bricht plötzlich Streit aus. Ein paar Männer versuchen zu schlichten, doch der Zorn der Jugendlichen wendet sich gegen sie. Bis nach Hause werden sie verfolgt, dort nimmt das Drama eine schreckliche Wendung.
Frierend steht steht ein junger Mann, der Jannick genannt werden will, in seiner Adidas Trainingsjacke vor der gelben Häuserfront und starrt fassungslos auf einen Stein. Der Stein liegt da schon lange. Bislang war er für Jannick eher unbedeutend, wie das bei Ziersteinen üblich ist, die abseits der Gehwege liegen und immer ein bisschen zu gewollt wirken. Nun aber ist der Stein von Kerzen umgeben. Blumensträuße liegen an seiner Seite. Und Jannick sagt: „Jusef war mein Kumpel und jetzt sind hier nur noch diese verdammten Blumen.“
Er spielt nervös an seinem silbernen Armband herum. Sein Kumpel ist an dem Stein verblutet. Niedergestochen.
Hinter Jannick fällt die frühe Märzsonne auf den Rasen, ein seltsames Licht. Wieder setzt er an, seine Geschichte zu erzählen. Als würde sie logischer werden, wenn er sie noch einmal erzählte. Jannick und Jusef kannten sich seit Jahren, so wie sich fast alle in der Gegend hier kennen würden, berichtet der 20-Jährige. Er habe hier gewohnt, südlich der S-Bahnlinie, und Jusef eben nördlich von ihr, in der „weißen Siedlung“. Aber: „Wir sind hier wie eine große Familie, wenn einer Streit hat, stehen alle für ihn ein.“
Und Streit muss es gegeben haben am Sonntag, heftigen Streit. Michael Brandies steht am Fenster seiner Wohnung, von dem er einen guten Blick auf den Stein und die Blumen hat. Und er schüttelt den Kopf. Auch er kann noch nicht so recht begreifen was hier passiert ist. „Es war ein Höllenlärm hier“, sagt der kleine Mann mit den grauen Haaren und lehnt sich mit den tätowierten Unterarmen auf die Fensterbank. Steine seien geflogen und Geschrei hätte es gegeben. Mindestens 20 Mann müssen vor dem Haus gewesen sein. Als es passiert war, habe er gesehen wie der Junge blutend am Boden gelegen habe. Ein anderer Anwohner hat noch versucht den jungen wiederzubeleben. Erst nach zehn Minuten seien Helfer vor Ort, berichtet der Frührentner. Jusef El-A. war nicht zu retten.
Schuhe, so viele Schuhe. Auf dem grauen Flur im sechsten Stock in der „Weißen Siedlung“ liegen sie haufenweise herum. Viele Menschen sind an diesem Dienstag in die kleine Wohnung der Familie El-A. gekommen, sie liegt in einem der Betonriegel, die sich wie Zahnreihen aus dem Neuköllner Norden erheben. Sie ringen darum, das Unfassbare zu begreifen. Ein unruhiges Gemurmel dringt heraus. „Es tut uns leid aber wir können im Moment nichts sagen, wir können nur trauen.“ , sagt ein schwarzhaariger Junge mit brüchiger Stimme bevor er die angelaufene Haustür schließt. Jetzt ist wieder still. Durch das kleine Fenster am Ende des Gangs kann man hinunter in den Hof schauen, draußen scheint die Sonne. Auch den roten Fußballplatz kann man von hier oben sehen, auf dem die ganze Sache angefangen hat
Vielleicht war es nur ein einziger Satz
Hier, auf dem roten Platz, war es laut einem Ermittler zu ersten Tätlichkeiten gekommen. Abwertende Bemerkungen seien gefallen. Vielleicht war es sogar nur ein einziger Satz, „Du spielst so scheiß Pässe“, der ausgereicht hat, die Stimmung kippen zu lassen. Es wurde gefoult, Schläge folgten . Erst zwischen den Spielern, aber auch unter den Zuschauern gab ein Wort das andere. Unter ihnen Oliver H. und sein Freund Sven N., beide mit 39 und 34 Jahren älter als die die Jugendlichen auf dem Platz. Oliver H.’s Sohn Kevin soll ebenfalls mitgespielt haben. „Die Männer wollten offenbar schlichten“, gibt ein Ermittler seinen derzeitigen Ermittlungsstand wider. Danach habe sich der Zorn der meist türkisch- und arabischstämmigen Spieler und Anhänger plötzlich auf sie gerichtet. Warum es zu dem Zusammenschluss kam und die Beschwichtiger den Kontrahenten plötzlich wichtiger waren als ihr Streit, ist noch unklar.
Oliver H. und sein Begleiter Sven N. sollen regelrecht geflüchtet sein vor der wütenden Menge. „Die Horde von mindestens 20 Jugendlichen hat die Männer quer durch Neukölln nach Hause verfolgt“, sagt ein Ermittler. Was gesagt worden sein könnte, um diesen Furor zu rechtfertigen, der die Meute eine so weite Strecke zurücklegen und zwei Männer bis zu deren Haus verfolgen ließ, ist bislang unbekannt.
Die wütenden Jugendlichen sollen sich mit Steinen bewaffnet schließlich gegen 18 Uhr vor der Wohnung von Oliver H. in der Fritzi-Massary-Straße aufgebaut und die Männer nach draußen gerufen haben. Statt die Polizei zu rufen, ist nach jetzigen Erkenntnissen zumindest Sven N. mit einem Messer bewaffnet zu der Horde Jugendlicher auf die Straße getreten. Er traute sich die Konfrontation offenbar zu, und auch Jannick berichtet, dass er die Lage habe beruhigen wollen. Ein weiterer Bekannter des Mannes soll dazu gekommen sein, bewaffnet mit einer Machete. In der Menge befand sich auch Jusef El-A.
Noch ist unklar, wie es zu der Tat im Einzelnen kam. Fest steht: Der 18-Jährige wurde während der Auseinandersetzung mit einem Messerstich in den Oberkörper so schwer verletzt, dass er sich noch zu dem Stein schleppen konnte und wenig später im Krankenhaus an den Folgen der schweren Verletzung starb. Auch sein 21-jähriger Freund erlitt eine Messerverletzung.
4000 Menschen, 29 Hochhäuser – es ist ein durchaus nüchterner Blick, den Cindy Gill auf ihr Betreuungsgebiet werfen kann. Die Quartiersmanagerin kennt die Zahlen der Weißen Siedlung, diesem seltsamen Satelliten im Hinterland von Estrel-Hotel und Sonnenallee, der in seiner gar nicht kiezigen Vorstadt-Heruntergekommenheit mit weißen Wellblechfassaden und großzügigem Grün an diesem Sonnentag fast beschaulich wirkt. Der Anteil der Jugendlichen an der Einwohnerschaft ist groß, die Arbeitslosigkeit unter ihnen noch größer. „Es gibt hier nicht ohne Grund ein Quartiersmanagement“, sagt Gill, grau-geringeltes Oberteil, dezenter Schal, wenig Schminke, und blickt aus dem Fenster ihres Büros auf eine Bretterwand, die die Weiße Siedlung von der benachbarten Laubenkolonie trennt. „Wir sind total bestürzt“, sagt sie. „Trotzdem: Wenn jetzt das Bild aufkommt, hier sei alles Mord und Totschlag, dann wirft uns und die Jugendlichen das um mehrere hundert Meter zurück.“ Diesem Bild gelte es entgegenzuwirken. Deshalb redet sie heute, „obwohl wir alle unter Schock stehen, unglaublich bestürzt sind“.
Jusef El-A. war seit vier Jahren engagiert im Jugendbeirat
Was Gill erzählt, mag denn auch so gar nicht zu den Ereignissen vom Sonntag passen. Jusef El-A. sei seit vier Jahren Mitglied im Jugendbeirat gewesen. „Wir haben ihn als super engagiert erlebt“, schildert sie. Der Jugendbeirat sei vor einigen Jahren als „Stimme der Jugend“ im Kiez eingerichtet worden. Die Mitglieder des Beirats hätten sich aktiv eingebracht, um Projekte in der Siedlung voranzubringen und das Zusammenleben im Kiez besser zu gestalten. Nicht von oben herab sollten die Jugendlichen mit Ideen konfrontiert werden, wie ihr Viertel auch für sie freundlicher werden könnte, sie selbst sollten an Lösungen mitarbeiten. Und Jusef El-A. tat das. Auf einem Foto ist er mit Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zu sehen. Lässig hält einen Aktenordner unter dem Arm, die andere Hand in der Hosentasche vergraben. Junge Männer blicken da in die Kamera, manche lächelnd, manche ernst, alle erkennbar stolz auf ihre Rolle als Verantwortungsträger.
Jusef El-A., der hier einmal nicht lächelt, habe aber sonst, so sagt es Cindy Gill jetzt, bei jedem Zusammentreffen meist gestrahlt. „Sehr zuverlässig, sehr lebensfroh“ – Jusef sei eine Stütze des 2008 ins Leben gerufenen Beirats gewesen, Gründungsmitglied, obwohl damals eigentlich noch zu jung, Integrationsfigur, einer, „der mit jedem gut konnte“. Kurz: Einer, bei dem das Konzept aufgegangen sei, Selbstbewusstsein dadurch zu fördern, dass Verantwortung übertragen wird, Verantwortung über Feste, Aktionen, ein kleines Budget. Dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen von anderen und von sich selbst „nicht immer als diese typischen Neuköllner Problemkids wahrgenommen werden“. Das habe gut funktioniert. Bis Sonntag.
Wie passt das von Gill vermittelte Bild von den befriedeten Problemkids, die für Kiezfeste Sackhüpfen und Eierlaufen organisieren, zu jener Gewalteskalation, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass man sich nun für Gills Arbeit interessiert? Ist auch hier, zwischen den Stechpalmen und Blumenfotos in der zum Büro umgebauten Erdgeschosswohnung, etwas schief gelaufen? Wurde hier, wo unterstützende Angebote koordiniert werden, zu wenig darauf geachtet, was die Jugendlichen sonst tun, außerhalb der Reichweite vom Quartiersmanagement und dessen Jugendklub „Sunshine Inn“?
Vorstrafen, Ausraster, Streit? „Wir kennen keene Hintergründe.“
Cindy Gill wehrt das ab, mit sanfter Stimme, leichtem Berlinern: „Wir kennen keene Hintergründe.“ Vorstrafen, Ausraster, Streits – all das interessiere nur, wenn es an Quartiersmanager und Streetworker herangetragen werde. „Unser Ansatz ist es, den Zusammenhalt zu verbessern, Strukturen zu schaffen, wo Bewohner sich kennen lernen können.“ Dabei geht man der eigenen Klientel offenkundig weit entgegen, hat sich ein gutes Stück eingelassen auf die Lebenswelt eines Kiezes, der von Zuwanderern aus der Türkei und arabischen Ländern geprägt ist. Die Tatsache etwa, dass auf einem Foto des Jugendbeirats nur junge Männer zu sehen sind, scheint für Gill kaum problematisch: Die Mädchen interessierten sich nun einmal eher fürs Quatschen, die Jungs für die Workshops und Aktionen. Überhaupt sei es „in dem Alter nun mal so“, dass Jungs Mädchen „blöd“ fänden. Man arbeite aber an einem Angebot, dass die Unterrepräsentierung des anderen Geschlechts auffangen solle: einer Mädchengruppe.
Vorerst freilich sei das alles nicht von Bedeutung: Es gelte nun, die Trauer aufzufangen, die Wut einzudämmen, das Selbstwertgefühl nicht nur der Jugendlichen im Blick zu haben: „Das hier ist für alle Bewohner ein Schlag in die Magengrube. Die denken doch: Mensch, jetzt sind wir wieder die Doofen.“
Schon für Dienstagnachmittag hat die Familie von Jusef El-A. zu einer Trauerfeier in das „Haus der arabisch-deutschen Jugend“ geladen. Es liegt im Erdgeschoss einer Wohnstraße in Neukölln, unweit rattert die S-Bahn, Rettungswagen verlassen immer wieder laut aufheulend die gegenüber liegende Feuerwehr und erinnern die Versammelten daran, dass für Jusef die Hilfe zu spät kam. Auch hier finden sich nur Männer ein, um einander beizustehen. Die Frauen, so sagt es einer, trauern zu Hause.
Ein Onkel von Jusef ist aus Nordrhein-Westfalen angereist, er hat schlohweißes Haar und Tränen in den Augen. „Das ist heute kein Tag für Befragungen, nur ein Tag der Trauer.“ Der Onkel erzählt, dass Jusefs Vater in Ohnmacht gefallen ist, als er von der schlimmsten aller möglichen Nachrichten für ihn erfuhr. Um ihn herum stehen mehrere junge Männer, aus ihren Augen spricht nur Trauer, keine Wut. Nein, äußern wollen sie sich nicht, aus Rücksicht auf die Familie, erstmal müsse nun gebetet werden.
Am Dienstagabend lassen die Ermittler Sven N. laufen. Sie gehen von Notwehr aus. „Da kommt auf jeden fall noch was“, sagt Jannick. „Wenn es mein Bruder wäre den man abgestochen hat, würde ich den Kerl auch fertig machen.“