zum Hauptinhalt
Hatice Akyün.
© Andre Rival

Kolumne "Mein Berlin": Die Frage der letzten Ruhe

Für die meisten Türken der ersten Generation ist es selbstverständlich, in der Türkei begraben zu werden. Für Hatice Akyün ist das unvorstellbar.

Am Wochenende rief meine Mutter an. Sie erzählte mir, dass mein Onkel gestorben sei. Die ganze Familie sei damit beschäftigt, ihn in unser anatolisches Dorf zu bringen, um ihn dort so schnell wie möglich beizusetzen. Mir fiel die Geschichte ein, wie ein Bekannter meines Vaters vor 30 Jahren seine tote Mutter in einen Teppich wickelte, auf dem Dachgepäckträger seines Autos befestigte und sie in die Türkei brachte. Damals kostete es noch ein halbes Vermögen, einen Leichnam mit dem Flugzeug zurück in die Heimat zu fliegen.

Die meisten Türken der ersten Generation wollen in ihrem Heimatland begraben werden. Die wenigsten wissen, dass es auf deutschen Friedhöfen mittlerweile islamische Grabfelder gibt. Und die, die davon gehört haben, wollen trotzdem zurück in die Türkei. Wenn sie es lebend schon nicht geschafft haben, dann eben tot.

Niemals würde ich mich trauen, meine Eltern zu fragen, ob sie sich nicht lieber in Deutschland beerdigen lassen möchten. Sie davon zu überzeugen, ist undenkbar. Nur einmal habe ich diese Möglichkeit angedeutet. Meine Mutter hat zwei Tage nicht mit mir gesprochen und mein Vater zischte: „Deine Mutter und ich wissen, wo wir beerdigt werden wollen, unsere Heimat tragen wir hier“ und klopfte sich auf sein Herz. Sie möchten neben ihren Eltern liegen, in Akpinar Köyü, dem Dorf der reinen Quelle, in Anatolien. Dort stammen sie her, dorthin wollen sie zurück.

Es wird die Zeit kommen, in der meine Eltern nicht mehr da sein werden. Und ich als Gastarbeiterkind werde sie doppelt verlieren: Sie werden nicht mehr leben, und ihre Gräber werden tausende Kilometer von meinem Heimatland entfernt sein. Nur wenn ich nach Akpinar Köyü fahre, werde ich sie besuchen können. Wenn ich daran denke, überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Wo ich einmal beerdigt werden möchte, steht fest: in Berlin. Ich möchte dort bleiben, wo meine Kinder sind. Sie und meine Enkelkinder sollen jederzeit zu meinem Grab kommen können, wenn sie Sehnsucht nach mir haben. Sie sollen die Möglichkeit haben, es immer zu tun, ohne ein teures Flugticket kaufen oder eine lange Reise machen müssen.

In Berlin können sich Muslime auf dem Friedhof Gatow und am Columbiadamm nach den Ritualen ihres Glaubens beisetzen lassen: Nach Osten gerichtet und ohne Sarg, nur mit einem Leichentuch umhüllt. Meinem ersten deutschen Freund bot ich damals an, dass wir uns auf der Trennlinie ein Doppelgrab errichten lassen könnten. Er auf der Christenseite und ich im Ostflügel. Aber er fand das keine gute Idee. Als Atheist wollte er seine Organe lieber spenden und anschließend anonym beigesetzt werden.

Vielleicht sollte ich mit meinen Eltern einen Ausflug auf einen Berliner Friedhof unternehmen, wenn sie mich das nächste Mal hier besuchen. So würden sie sehen, dass auch der deutsche Friedhof durchaus als würdevolles Umfeld für die letzte Ruhe geeignet ist. Sie wären bestimmt von der Schönheit beeindruckt und davon, dass die Gräber und überhaupt der ganze Friedhof so gepflegt sind. Sich in Deutschland bestatten zu lassen, bedeutet nicht, seine Herkunft aufzugeben. Zumal das in Berlin auch kaum möglich ist, weil hier jeder irgendwie einen Migrationshintergrund hat.

In der Trauer sind wir alle gleich: Wenn wir uns auf den Friedhöfen unsere Gießkannen ausleihen, Gräber umgraben, Tüte um Tüte mit Pflanzen auspacken, den Müll sorgfältig entsorgen, Wasserkanister füllen, um die Grabsteine zu schrubben. Damit wir den Menschen nahe sind, die wir lieben und die uns am meisten fehlen. Auf dem Friedhof ist man einfach nur Mensch. Vollkommen integriert.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

Zur Startseite