Bomben in Oranienburg: Die ewige Suche
Einigermaßen regelmäßig wird den Bewohnern von Oranienburg der Zweite Weltkrieg ins Gedächtnis gerufen. Immer dann, wenn sie mal wieder eine Bombe finden. 300 sollen dort noch unter der Erde liegen. Nach ihnen zu suchen ist Aufgabe der kleinen Stadt. Die hat kein Geld, muss sich aber beeilen.
Die Bombe ist fett und groß wie ein vollgefressenes Schwein, ein vollgefressenes Schwein ohne Kopf und ohne Beine. So liegt sie in einer Anzahl von geschätzten 300 Exemplaren unter Brandenburger Erde, eine ganze Schweinerumpfherde, im Durchschnitt in 4,3 Metern Tiefe begraben. Sie schläft in aller Regel, seit nun bald sieben Jahrzehnten. Dies entspricht ihrem teuflischen Wesen.
Denn schlafen, dafür ist eine Bombe nicht gemacht. Ihre Erbauer sahen anderes für sie vor. Eine Bombe hat hochzugehen. Beim Auftreffen auf den Boden oder einige Stunden später. Sie hat üblicherweise nicht erst Jahrzehnte danach zu explodieren.
Bezeugt sind solche späten Explosionen bisher fünf Mal. Im Dezember 1977 ging eine Bombe auf einem Betriebsgelände hoch. Im April 1981 im Badeweg 5, im Juli 1982 in der Weserstraße, 1991 im Forstring und zwei Jahre später im Lehnitzsee. Der See, das Betriebsgelände, der Badeweg, die Weserstraße, der Forstring und auch die 300 unsichtbaren Schweinerümpfe befinden sich in der brandenburgischen Stadt Oranienburg. Die fünf hochgegangenen Exemplare waren mit chemischen Langzeitzündern bestückt. Gebaut, um erst dann zu explodieren, wenn die Menschen sich wieder in vager Sicherheit wähnten. Nicht in absoluter, 30, 40, 50 Jahre nach Kriegsende.
Seit der Explosion im Lehnitzsee ist Ruhe in Oranienburg. Ruhe, in der die Oranienburger ihrem Leben nachgingen, in der keine der Bomben sich mehr an ihre Bestimmung erinnerte, nichts mehr von ihnen erschüttert wurde. Außer vielleicht der Glaube eines Mannes an die Demokratie. Dieser Mann ist ausgerechnet der Bürgermeister hier.
Hans-Joachim Laesicke formuliert es so: „Ich bin ernüchtert über die politischen Prozesse in der Demokratie.“ Er sitzt in seinem Bürgermeisterbüro, das sich im Oranienburger Schloss befindet. Ein sehr gemütlich aussehender Mann auf einem Stuhl, mit Bauch und Dreitagebart. Jahrgang 1954 ist er, seit fast 20 Jahren erster Bürger seiner Stadt, zuletzt mit 72 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Als er noch Bürgermeisterbeigeordneter war, Anfang der 90er Jahre, hat er bei Bombenentdeckungen und anschließenden Entschärfungen die Oranienburger eigenhändig aus ihren Häusern geklingelt. Er hat guten Tag gesagt und dass er von der Stadt komme, dass das Haus im Sperrkreis liege und man leider evakuieren müsse. Ist er nicht abgestumpft nach all der Zeit? „Nee.“
Oranienburg ist eine Stadt, über der im Zweiten Weltkrieg überdurchschnittlich viele Bomben abgeworfen worden sind. Der hier ansässigen Rüstungsindustrie wegen und wohl auch, weil Uranerze weiterverarbeitet wurden. Mehr als 10 000 sollen es gewesen sein. Eine wiederum überdurchschnittlich große Anzahl davon – ein Gutachten eines Professors der Universität Cottbus kommt auf 4000 – waren welche mit Langzeitzündern. Flugzeuge der amerikanischen Luftwaffe hatten sie an Bord, als sie am 15. März 1945 zwischen kurz vor drei und halb vier am Nachmittag das Oranienburger Bahnhofsgelände angriffen.
Einigermaßen regelmäßig, nahezu im Monatstakt, wird diese gute halbe Nachmittagsstunde den Bewohnern der Stadt ins Gedächtnis gerufen. Gerade war es wieder so weit. Der S-Bahnhof ist in den vergangenen zwei Wochen nach Blindgängern abgesucht worden. Man fand Verdächtiges im Boden. Die in Oranienburg aufs Beste eingeübten Bombenbergungsroutinen liefen an, Sperrgebietsfestlegungen, Evakuierungspläne, Entschärfungstermine. Der Verdacht stellte sich als unbegründet heraus, es war ein Stahlträger, den die Messsonden der Blindgängersucher gefunden hatten, und Reste einer längst explodierten Bombe.
„Es besteht somit kein Handlungsbedarf für eine Bomben-Neutralisierung am kommenden Mittwoch, den 27.02.2013“, teilte die Stadtverwaltung mit. Auch die zwischenzeitlich gesperrte S-Bahn-Verbindung nach Birkenwerder werde planmäßig am Abend des 3. März wieder freigegeben. Die Suche auf dem Bahnhofsgelände werde aber fortgesetzt.
60 Jahre werden sie noch suchen. So ist der Stand der Dinge
Das Bombensuchen in Oranienburg begann schon während des Krieges. Stadtweit und mal mehr, mal weniger systematisch wurden seitdem Straßen und Hausfundamente aufgebohrt, Sonden in die Erde gelassen und Luftbilder begutachtet. Seit 2008 fußt das alles auf dem Cottbuser Gutachten, das mit Kosten von 420 Millionen Euro bis zum letzten aufgespürten und entschärften Blindgänger rechnet. Drei Millionen pro Jahr gibt das Land Brandenburg dafür aus, die Stadt stellt in den nächsten 20 Jahren insgesamt 70 Millionen Euro bereit, dreieinhalb Millionen pro Jahr also. Zusammengenommen macht das sieben Millionen jährlich, man wird also nach dem gegenwärtigem Stand der Dinge in 60 Jahren fertig sein. Der Bund gibt nichts.
Laesicke sagt: „Der Bund. Wenn Deutschland sich an Kriegen beteiligen will, dann ist das immer eine große nationale Aufgabe. Reden im Parlament, feierliche Politiker, bebende Stimmen. Und ist so ein Scheißkrieg dann zu Ende, dann ist es auf einmal keine nationale Aufgabe mehr. Dann ist plötzlich der Grundstückseigentümer verantwortlich. Der, der eine Kita bauen will.“ Laesicke selbst also.
Die Gesetze sind so. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vor Jahrzehnten selbst Regeln gegeben, nach denen sie nur zuständig ist für die so genannte „reichseigene Munition“, von der es allerdings in Oranienburg so gut wie keine gibt. „Die Lage hier bei uns stößt bei denen auf keine Aufmerksamkeit“, sagt Laesicke. „Der Bund behandelt das wie irgendeine Ölspur auf ’ner Straße. Jeder herrenlose Koffer, auf Bahnhöfen, in dem sich dann später Unterwäsche findet, das findet Aufmerksamkeit.“
Hier wiegt also einer auf. Hier vergleicht einer. Die virulente Terrorismusgefahr mit vergessenen Weltkriegsbedrohungen. Vergessene Weltkriege mit bundesrepublikanischen Kriegen in Afghanistan oder Serbien. So etwas ist sehr selten in Deutschland, man setzt solche Dinge hier öffentlich und üblicherweise nicht miteinander ins Verhältnis. Politiker tun dies schon gar nicht. Politiker, außer Laesicke, der zusammen mit den 40 000 Einwohnern seiner Stadt auf geschätzten 50 Tonnen Sprengstoff sitzt, legen nach seiner Wahrnehmung viel lieber die Hände in den Schoß.
Aber macht er es im Grunde nicht zumindest ähnlich?
Die dreieinhalb Millionen, die er dem Haushalt Oranienburgs jedes Jahr für die Bombensuche abpresst, reichen ja augenscheinlich nicht, um in einigermaßen absehbarer Zeit damit fertig zu sein.
Nähme er sämtliche Erträge, die Oranienburg aus der Grundsteuer, Gewerbesteuer, Hundesteuer, Zweitwohnungsteuer, aus Bußgeldern und Landesüberweisungen und so weiter zufließen, wäre Laesicke vielleicht schon in sechs statt 60 Jahren mit der Bombensuche fertig. 70 Millionen Euro hat Oranienburg im vergangenen Jahr eingenommen.
Das hätte jedoch den Nebeneffekt, dass Laesicke seine Stadt zumindest für diese sechs Jahre zusperren könnte. Sie würde nicht mehr funktionieren ohne das Geld. Und so setzen er und Oranienburgs Haushaltspolitiker sich jedes Jahr aufs Neue hin und wiegen schon wieder etwas gegeneinander auf: Scheißkrieg gegen öffentliches Leben. Geld für Blindgängerentschärfung gegen Kitazuschüsse.
Diese Beratungen sind kein Vergnügen. Sie sind, was die Last der Menschen betrifft, die an ihnen teilnehmen, monströs.
Laesicke erzählt von einer Idee. Vor zwei, drei Jahren ist er mit ihr in Berlin vorstellig geworden, bei einem Staatssekretär. Sie ging so: Wie wäre es denn, wenn Deutschland, dieses Waffenherstellerparadies, dieser Waffenexportgigant, gewissermaßen als Kompensation dafür ein Waffenzerstörungszentrum würde? „Ein Standort mit Kriegslastenforschungskompetenz“, sagt Laesicke, „die man dann auch wieder exportieren könnte?“ Mit einmaliger Anschubfinanzierung und Oranienburg als Probegebiet?
Laesicke hat dann nichts mehr aus Berlin gehört.
So ähnlich verhielt es sich auch jahrelang in anderen Fällen. Laesicke berichtet von Petitionen an den Brandenburger Landtag, welche dann wiederum Bundesratsinitiativen zur Folge hatten, in denen eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an der Bombensuche gefordert wurde. Erst der letzte Vorstoß dieser Art war erfolgreich, was wahrscheinlich wiederum daran lag, dass in den Jahren 2010, 2011 und 2012 auch woanders Bomben gefunden worden waren. Alle drei erregten Aufsehen. Die eine lag im niedersächsischen Göttingen, bei ihrer Entschärfung starben drei Menschen. Die andere lag in Koblenz, im Rhein. Sie war fast zwei Tonnen schwer. Im Sommer 2012 ging dann eine Bombensprengung in München spektakulär schief. Fensterscheiben zerbrachen, es brannte.
Dauernd muss er abwägen. Und nie ist es wirklich gut
Die Gefahr war wieder sichtbar geworden, und zwar flächendeckend. Der Bundesrat stimmte der Gesetzesinitiative zu, nun muss der Bundestag darüber beraten. Die Bundesregierung ist gegen ein neues Gesetz.
Laesicke ist SPD-Mitglied. Er erinnert sich noch gut an die Zeit um die Jahrtausendwende, als der Bundestag schon einmal einen solchen Bundesratsgesetzentwurf abgelehnt hatte. Es war ein rot-grün-dominiertes Parlament damals. Es saßen Genossen von Laesicke darin, die Jahre zuvor bei ähnlichen Gelegenheiten die schwarz-gelbe Kohl-Regierung für deren Nichtstun lautstark kritisiert hatten. Der Zeitpunkt für Laesickes Erschütterung war gekommen, denn sie taten nun selbst ebenfalls nichts.
Vielleicht war er bis dahin einfach zu naiv gewesen. Vielleicht sind es aber auch die anderen. Vielleicht hätten sie sich einfach einmal die spezielle Funktionsweise der Oranienburger Blindgänger, ihren Teufelsmechanismus, erklären lassen sollen.
Man kann das am besten tun, indem man von Oranienburg 70 Kilometer nach Süden fährt. Dorthin, wohin die andere Hälfte jener 1300 Bombenflugzeuge am 15. März 1945 unterwegs gewesen war, jene Hälfte, die nicht Oranienburg bombardierte sondern das im Wald von Wünsdorf gelegene Oberkommando der Wehrmacht. Nach dem Krieg zog die Rote Armee dort ein, und nach der Roten Armee kamen brandenburgische Behörden. Und der Kampfmittelbeseitigungsdienst der Landespolizei. Was Zufall war. Geräumt wird hier schon lange nicht mehr.
Bei Horst Reinhardt klingelt das Telefon. Er geht ran, hört zu, sagt „sehr schön“ und legt wieder auf. Oranienburg war dran, einer von Reinhardts Kollegen dort, er hat Reinhardt jene Nachricht von dem Stahlträger unterm S-Bahnhof überbracht, die die Stadtverwaltung kurz darauf der Öffentlichkeit zur Kenntnis geben wird.
Reinhardt, Jahrgang 1951, ist technischer Leiter beim Kampfmittelbeseitigungsdienst und damit Chef von 50 Munitionsentschärfern, die nahezu jeden Tag im Land Brandenburg unterwegs sind. Er selbst hat in seinem Leben mehr als 150 Bomben unschädlich gemacht, davon 60 mit chemischen Langzeitzündern. Ein paar davon liegen in zwei Vitrinen, die an Reinhardts Bürowand stehen.
Das Prinzip: Die Bombe fällt aus dem Flugzeug, an ihrem Ende befindet sich ein kleines Windrad. Das Windrad dreht sich beim Fallen, drückt über einen Gewindemechanismus einen Bolzen in eine Glasampulle. In der Ampulle ist Aceton, das Aceton läuft aus und weicht ein aus Zelluloid bestehendes Plättchen auf, das wiederum einen unter Federspannung stehenden Schlagbolzen hält. Solange, bis das Zelluloid nach zwei, sechs, zwölf Stunden – je nach Zündereinstellung – durchgeweicht ist. Dann explodiert die Bombe.
Dieser Zündmechanismus indes hat bei den Oranienburger Blindgängern meist versagt. Das Aceton floss nicht aufs Zelluloid, sondern sonst wohin. Aber: Zelluloid wird auch von alleine brüchig. Es dauert nur etwas länger. Wer das bröckelige, mittlerweile fast 70 Jahre alte Zeug einmal sehen will, muss sich nur über Reinhardts Vitrinen beugen.
Reinhardt ist ein bedächtig sprechender Mann. Das muss der Beruf mit sich gebracht haben. Wenn er von seiner Arbeit berichtet, dann nur unter Weglassung der Heldentaten. Er erwähnt stattdessen seine Skrupel. Sie kämen ihm, sagt er, in Situationen, wo ein Blindgänger nicht mehr entschärft, sondern nur noch an Ort und Stelle gesprengt werden kann, weil alles andere zu gefährlich ist. „Das ist dann manchmal die Entscheidung: das eigene Leben gegen das Haus der anderen“, sagt er. „Ist nicht immer ein gutes Gefühl.“
Er gleicht damit ein wenig Laesicke, dem Bürgermeister, der ja auch dauernd abwägen muss. Dauernd abwägen, auch in eigentlich eindeutigen Situationen, und nie ist es gut.
Über die Oranienburger Bomben sagt Reinhardt: „Das geht so nicht mehr lange gut, das wird immer gefährlicher.“ Er sagt auch das mit einer ziemlichen Ruhe. Er hat sich an diesen Satz gewöhnt. Er sagt ihn seit Jahren.
Erschienen auf der Reportage-Seite.
Torsten Hampel