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Schüler in der Gedenkstätte Sachsenhausen in der Baracke 38, auf die Neonazis 1992 einen Brandanschlag verübt hatten.
© imago/Jürgen Ritter

Debatte um KZ-Besuche: Die einen still, die anderen laut

Besuche von Schulklassen im KZ Sachsenhausen haben sehr abgenommen. Als Pflichttermine bleiben sie umstritten. Ein Besuch am Ort des Schreckens.

Als der Bus am Bahnhof Oranienburg vorfährt, ist er sofort voll. Eine Gruppe spanischer Touristen hat sich im Nu hineingedrängt. „Macht nix, ist ja ein Wandertag. Dann gehen wir halt zu Fuß“, sagt Annette Schneider und lacht. Sie ist Klassenlehrerin und möchte nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht. Den Weg, den sie mit ihrer zehnten Klasse eines Berliner Gymnasiums in Wilmersdorf nun nimmt, sind früher die Häftlinge gegangen. Vom Bahnhof eine Viertelstunde mitten durch die Stadt zum Konzentrationslager Sachsenhausen. Von den SS-Wärtern wurden sie dabei brutal misshandelt. So kann man es in Häftlingschroniken nachlesen.

Zum zweiten Mal ist Schneider mit einer Klasse in Sachsenhausen. Wie viele Berliner Klassen die Gedenkstätte besuchen – das ist in der vergangenen Woche zu einem kleinen Politikum geworden. Schneider hat davon gehört. Verpflichtende KZ-Besuche für alle, die in Deutschland leben? Mit dem Vorschlag der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) kann sie wenig anfangen. „Solche Besuche müssen gut vorbereitet werden. Sonst muss man sich nicht wundern, wenn da nichts passiert“, sagt sie. Sie habe schon erlebt, dass ein Achtklässler Adolf Hitler zu einem deutschen König im 18. Jahrhundert gemacht habe.

"Und das hier sind die bildungsbürgerlichen Kinder"

Schneider guckt auf ihre Schüler, die vor ihr durch Einfamilienhaussiedlungen stapfen. „Und das hier sind die bildungsbürgerlichen Kinder, die grundsätzlich offen sind für solche Sachen.“ Mit Realschülern etwa aus Neukölln, meint sie, wäre es bestimmt noch schwieriger. „Denn denen fehlt im Zweifelsfall auch noch der soziale Hintergrund.“

Andererseits: Cheblis Vorschlag zielte ja gerade darauf, dass ein Besuch in einer KZ-Gedenkstätte – als von allen geteiltes Erlebnis – soziale und kulturelle Unterschiede überwinden könnte. Damit allen bewusst wird, was die Schoah war, was jeder antisemitische Vorfall heute in Deutschland vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte bedeutet.

"Zwangspädagogik wie in der DDR"

Günter Morsch, der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, hat Cheblis Vorschlag „Zwangspädagogik wie in der DDR“ genannt. Mit einem guten Gespür für die nötige Prise Polemik hat Morsch Cheblis Vorstoß genutzt, um darauf hinzuweisen, dass seit Jahren immer weniger Berliner Schüler nach Sachsenhausen kommen. 2006 waren es noch 386 Klassen. Inzwischen sind es in manchen Jahren kaum mehr halb so viele.

Auf dem zentralen Weg zwischen dem Besucherzentrum und der Gedenkstätte sind an diesem kalten, nebligen Tag im Januar viele Schulklassen unterwegs. „Nach Sachsenhausen muss man im Winter fahren“, sagt Annette Schneider. Auch in warmen Winterjacken könnten die Schüler nachvollziehen, wie es für die Häftlinge gewesen sein muss, als sie nur mit einem dünnen Arbeitsanzug bekleidet, bewacht von den SS-Männern, stundenlang in der Kälte stehen mussten.

Die schiere Weite berührt mit Wucht

Neben Schneider schmiegt sich ein junges Pärchen aneinander. Zwei junge Mädchen gehen demonstrativ rauchend an ihr vorbei. Es sind ganz normale Teenager. Links die alten Wachtürme und die Mauer des früheren KZ, rechts die Gebäude der Polizei-Fachhochschule. Früher wurden dort die Wachleute für alle Konzentrationslager im Deutschen Reich ausgebildet. In der DDR war dort die Nationale Volksarmee, die NVA, heute bildet die Brandenburger Polizei dort ihren Nachwuchs aus. Für die Anwärter, die den Rechtsstaat schützen sollen, gehört die Geschichte des historischen Ortes und der Polizei im Nationalsozialismus zum Pflichtprogramm.

Dann das Tor mit der Inschrift „Arbeit macht frei“. Der Blick auf das Lager berührt mit Wucht. Da ist die schiere Weite: Das KZ wurde als riesiges gleichschenkliges Dreieck angelegt. SS-Reichsführer Heinrich Himmler sah es als Prototyp eines „modernen, vollkommen neuzeitlichen und jederzeit erweiterungsfähigen Konzentrationslagers“. So konnten die Häftlinge möglichst gut überwacht werden. Wie viele Häftlinge dieser totalen Kontrolle ausgeliefert waren, zeigt ein Blick auf den Boden. Im Halbkreis um das Eingangstor herum sind unzählige rechteckige Schotterfelder, eingelassen in steinernen Rahmen. Jedes Feld steht für eine Baracke, in denen 250 Häftlinge eingepfercht hausen mussten.

"Schulklassen gehen mit dem Ort eigenartig um"

Anna Loy hat den ganzen Vormittag in der Gedenkstätte verbracht. Sie studiert in Berlin Landschaftsarchäologie, hat Fotos für ein Referat gemacht und die Schüler beobachtet. „Die Schulklassen gehen mit diesem Ort schon immer ein bisschen eigenartig um“, sagt sie. „Es gibt die eine Gruppe, die sehr still ist. Und die andere Gruppe, die übermäßig laut ist. Die fallen dann besonders auf in diesem stillen Areal.“ Eine Pflicht zu KZ-Besuchen – das kann sich die 23-Jährige nicht vorstellen. Andererseits ist sie froh, dass sie selber als Schülerin das frühere Konzentrationslager in Dachau besucht hat. „Auch wenn das nicht angenehm war.“

Beate Radecke aus Berlin hat der Besuch in Sachsenhausen tief bewegt. Seit Langem wollte die 72-Jährige, die in Oranienburg geboren wurde, einmal an diesen Ort kommen. „Mein Vater war drei Jahre in Russland in Kriegsgefangenschaft. Er hat diese Zeit in seinen Memoiren beschrieben. Das vermischt sich mit dem, was ich hier gesehen habe.“ Sie nehme die Gedenkstätte noch mal anders wahr als die jungen Leute, weil sie „die familiären Bindungen noch“ habe.

Weg von der Betroffenheitspädagogik

Dass junge Menschen anders auf Sachsenhausen reagieren, hat auch Günter Morsch, der Leiter der Gedenkstätte, beobachtet. „Wir wollen deshalb weg von dieser Betroffenheitspädagogik“, sagt er in seinem Büro im T-Gebäude, das etwas abseits der Besucherströme liegt. Hier saß im Dritten Reich die Inspektion der Konzentrationslager, die zentrale SS-Verwaltungs- und Führungsbehörde für alle Lager der Nazis. „Wir wollen Jugendlichen kein Narrativ vorgeben“, sagt Morsch. „In den 13 über das Gelände verteilten Ausstellungen sollen sie Geschichte selbst entdecken und ein eigenes Interesse entwickeln können.

Morsch, der die Gedenkstätte seit 1993 leitet, ist stolz, aus Sachsenhausen, das in der DDR der antifaschistischen Erbauung nach SED-Ideologie diente, einen offenen Lernort gemacht zu haben. Deshalb hat der 65-Jährige auch Chebli so scharf attackiert. Ihr Vorschlag widerspricht seinem Lebenswerk. Morsch glaubt nicht, dass zweistündige Zwangsbesuche gegen Antisemitismus helfen. „Wir sind kein antifaschistischer Durchlauferhitzer“, sagt er. Am meisten ärgert Morsch, dass Chebli Pflichtbesuche mit Blick auf muslimische Jugendliche und Zuwanderer vorgeschlagen hat. „Es gibt genug Biodeutsche, die den Holocaust leugnen. Aus Nationalismus oder aus Fremdenfeindlichkeit oder warum auch immer. Die Trennung zwischen deutschen und migrantischen Jugendlichen – da schafft man einen neuen Spaltpilz.“

Caspar Schwietering

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