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Nachruf auf Manfred Kiedorf (Geb. 1936): Die drei Fluchten des Grafen Kiedorf

Er war ein Gott, ein Säufer, ein Genie - wenn auch ein unzuverlässiges. Warum er mal im Gefängnis saß? Jedenfalls nicht wegen Republikflucht.

Im Knast hat er gesessen, drei Jahre insgesamt, die meiste Zeit davon im Arbeits- und Umerziehungslager „Schwarze Pumpe“. Unwahr ist, dass er wegen versuchter Republikflucht einsaß. Das hat er irgendwann mal so erzählt, und viele haben es weitererzählt. Es passte gut ins Bild vom Freigeist, dem das piefige Gleichmacherland zu eng sein musste. Doch irgendwie passte es auch wieder nicht, denn die Rolle, die am wenigsten die seine war, war die des Regime-Opfers. Ein Kiedorf und ein Fluchtversuch? Gescheitert? Ganz undenkbar!

So einer floh doch nicht über diese lächerliche Grenze, die das SED-Gesindel verbarrikadiert hatte. Außerdem: Die Welt hüben war ebenso zu klein und prunklos für ihn wie die Welt drüben. So unternahm er niemals einen Fluchtversuch, sondern er floh unablässig und dauerhaft erfolgreich, und mit Ost und West hatte das gar nichts zu tun. Flucht Nummer eins, da war er neun. Der Krieg war verloren, hinter Manfred lag die Kindheit auf einem echten Schloss. Es befand sich in Polen, das seit 1939 deutsch besetzt war. Manfreds Vater hatte Quartier auf diesem Schloss bezogen, ein höherer Postbeamter, laut Manfreds Erzählungen „Generalpostmeister“. Dem jüngsten Sohn, spät geboren und verwöhnt, wurde nicht allzu viel Zuverlässigkeit abverlangt, was ihn ganz offensichtlich prägte. Er wollte, so eine seiner weiteren Erzählungen, Panzergeneral werden, wovon ihm der Panzergeneral Guderian persönlich abgeraten haben soll. Als die Russen sich näherten, musste die Familie das Schloss räumen.

Flucht Nummer zwei, die entscheidende, begann als eine Flucht vor der Langeweile und vorm Desinteresse der Mädchen. Manfred, der zeichnerisches Talent bewiesen hatte, machte eine Lehre zum Gebrauchswerber im thüringischen Sonneberg. Im Berufsschulunterricht machte er die wohl wichtigste Bekanntschaft seines Lebens: Gerhard Bätz war zwar sehr anders als er selbst, ein hoch gewachsener Kerl mit Manieren und einem Sinn für Pflicht und Ordnung, aber neben Manfred war er der einzige Knabe der Berufsschulklasse. Die beiden saßen in der letzten Bank, vor sich nur Weibsbilder, die sich kein bisschen um die beiden scherten. Welche ihrerseits unter der Schulbank ein Spiel mit Halmasteinen entwickelten, das mit Halma nichts zu tun hatte. Sie beseelten die Figuren, erklärten sie zu Königen und Soldaten, sie führten Kriege und Verhandlungen und pfiffen auf den Lehrstoff und die Gunst der Mädchen.

Im besten Falle in die Klapsmühle

Umso mehr pfiffen die Mädchen auf die Knaben, und umso tiefer begaben sich jene in die Miniaturwelt. Die Halmasteine bekamen Gesichter und Livreen, Landkarten wurden gezeichnet, Urkunden erstellt. Aus den Halmasteinen wurden Figuren mit Armen und Beinen, gefertigt aus Zinnkernen, Draht und Kunststoff.

Auf die Kriege – Bätz und Kiedorf beschossen die gegnerischen Truppen mit Reiskörnern – folgte die Zeit des Aufbaus. Schlösser wurden errichtet im verschwenderischen Stil des Rokoko, bis in den kleinsten Schnörkel ausgestaltet, Pappe, Gips, gehärteter Klebstoff, winzige Kommoden bekamen Schubladen mit Besteck darin, alles im Maßstab 1:50, Gemälde an den Wänden, wenige Zentimeter hoch, wurden im Stil der alten Meister erschaffen.

Schloss Pyrenz, das älteste Schloss Dyoniens
Schloss Pyrenz, das älteste Schloss Dyoniens
© Thüringer Landesmuseum Heidecksburg in Rudolstadt

Aus dem Zeitvertreib unter der Schulbank hatte sich eine aufwändige Leidenschaft entwickelt, der die beiden zuhause nachgingen, ganz für sich. Je ausgefeilter die Geschichten, je staunenswerter die Schlösser, desto klarer war: Das Vergnügen musste ein privates bleiben; eine Ausstellung der Pracht kam nicht infrage. Allzu offensichtlich war der Fluchtgedanke, der der kleinen Prunkwelt innewohnte inmitten der großen grauen Welt des Sozialismus. Trist war der Fortschritt, glänzend das Vorvorgestern. Was sollten die Fortschrittlichen dazu sagen? Im besten Falle hätten sie die Vorvorgestrigen in die Klapsmühle geschickt.

Immerhin: Frauen fanden sich, für Bätz eine einzige bis heute, für Kiedorf etliche, welche dem Treiben der Männerkinder mit Gelassenheit, wahlweise mit mildem Desinteresse begegneten. Für Kiedorfs Frauen galt: So lange er im Rokoko verharrt, hockt er nicht in der Kneipe oder auf der Bettkante einer anderen.

Die Wege von Kiedorf und Bätz hatten sich früh getrennt, als Kiedorf an der Berliner Kunsthochschule angenommen wurde, Abteilung Bühnenbild. Bätz wurde Restaurator in Sonneberg. Die Passion blieb, ein jeder bastelte, klebte und bemalte sein eigenes Königreich und setzte den anderen per Post über die neuesten Ereignisse in Kenntnis. Tausende Karten und Briefe gingen hin und her.

Manfred Kiedorf flog von der Kunsthochschule, wurde Zeichner beim DDR-Comic „Mosaik“, wo er es vier Jahre aushielt (oder das Zeichner-Kollektiv ihn), er baute Bühnenbilder, Miniaturmodelle für Museen, er bemalte Transparente, die den Sieg des Sozialismus beschworen, entwarf eine Verdienstmedaille für Brandschützer, darauf ein Feuerwehrmann, der ein stolzes Löschrohr vor dem Bauch festhält, er lebte ein unstetes Leben, und verdankte den Frauen, die ihn liebten, den Halt, dessen auch er bedurfte.

Eine von ihnen, Gloria, mit der er ein paar Jahre in den Siebzigern zusammen war, und die auch eine Tochter von ihm hat, erinnert sich an einen beeindruckenden Sprücheklopfer – und fragt sich, wie sie es die Jahre mit ihm ausgehalten hat. Sie erzählt, wie er das Geld, das er hin und wieder verdient hat, versoff, wie er Bilder zweimal verschenkte, erst ihr, dann jemand anderem, wie er ins Gefängnis kam – natürlich nicht wegen Republikflucht, sondern wegen Arbeitsscheu und nicht gezahlter Alimente für die vier Kinder, die er schon hatte. Gloria findet aber auch, dass das alles viel zu negativ klingt. Sie hat ihn doch geliebt und findet, dass man einem Genie sehr viel verzeihen soll. Man muss nur wissen, dass es für so einen Menschen kein Morgen gibt, nur den Moment. Und wie sollte sie dem Mann gram sein, der sie so schön nackt gemalt und außerdem noch gedichtet hat:

Ich kann mich
nicht immer
auf mich
verlassen
Und du?

Die Frau nach ihr bedauert Gloria ein wenig, die wollte ihn erziehen, die Ärmste. Seine letzte Frau, Roswitha, mit der er seit den Achtzigern bis zu seinem Tod verheiratet war, bewundert sie.

Das schwadronierende Delirium

Ob diese Frau auch nur ein Gran Verständnis für Dyonien aufbrachte – so nannte Kiedorf seinen Fluchtpunkt, sein Rokoko-Königreich? Man kann sie leider nicht mehr fragen. Man kann aber davon ausgehen, dass ihm das recht egal war. Denn den einzig angemessenen Blick auf ihn, den Erschaffer und Lenker, konnten sowieso nur die Bewohner seines Reiches haben. Aus deren Perspektive war er ein Gulliver oder, noch besser, ein Gott, in seinen Benennungen ähnlich schwankend wie im angeblich wahren Leben: Mal nannte er sich Pe, mal einfach M. In Dyonien gab es keine Widerworte – eine Revolution gab es mal, die aber richtete sich gegen den König und nicht gegen den Gott, und sie musste selbstverständlich scheitern. Gerhard Bätz übrigens, per Brief über den Revolutionsversuch in Kenntnis gesetzt, war außer sich: Sollte jetzt der Klassizismus ausbrechen?

Zurück aber in dieses „wahre Leben“, in dem Manfred Kiedorf nicht Pe, nicht M und auch kein Gulliver war, sondern ein kleiner Mann, dem seine Talente nie zur großen Anerkennung verhalfen. Womit wir zur dritten Flucht gelangen, der ins schwadronierende Delirium.

Manfred Kiedorf (1936-2015)
Manfred Kiedorf (1936-2015)
© Gunther Becher

Jenseits Dyoniens war die Kneipe der eigentliche Bestimmungsort des Manfred Kiedorf. Selbstverständlich nicht irgendeine, sondern immer jene, in der die Verknechtung der Insassen den größtmöglichen Ruhm versprach. Die Insassen sollten einen gewissen Anspruch hegen, der selbstverständlich nicht so groß sein durfte, dass ein jedes Wort auf der Goldwaage landete. Denn Kiedorf, Alleinunterhalter von Gottes Gnaden, verbreitete oft kluge und originelle Dinge und mindestens so oft nicht so kluge. Was zählte, war die Pose. Der Alkohol half ihm, sie einzunehmen, und er half seinem Publikum, sie wertzuschätzen.

Wenn es im Ost-Berliner Prenzlauer Berg einen Mann gab, auf den das Wort Bohèmien zutraf, dann war es dieser ziemlich versoffene, ziemlich genialische Mann, der sich „Graf Kiedorf“ nennen ließ, und der tatsächlich eine Art Werk hinterlassen hat. Das steckt zum einen in den Erinnerungen der Mittrinkenden, die von Jahr zu Jahr blumiger werden. Zum anderen steht es auf Schloss Heidecksburg in Rudolstadt. Hier werden die Bätz-Kiedorfschen Schlösser ausgestellt sowie all die Figuren, für die Manfred Kiedorf ein Gott gewesen ist und alles andere als ein Flüchtling.

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