Integrationsexperte Kazim Erdogan: "Die Bühne wurde den Türken überlassen“
Integrationsexperte Kazim Erdogan sieht den Wahlkampf zum Referendum als Menetekel. Viele Deutsch-Türken hätten keine Identität in der deutschen Gesellschaft entwickelt.
Das heutige Referendum für das von Recep Erdogan geplante Präsidialsystem in der Türkei hat schon im Wahlkampf eines deutlich gemacht: Ein Teil der deutsch-türkischen Community auch in Berlin identifiziert sich immer noch viel mehr mit der Türkei als mit Deutschland. Der bekannte Neuköllner Psychologe und Soziologe Kazim Erdogan fordert deshalb Deutsche und Türken im Tagesspiegel-Interview auf, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Herr Erdogan, 700.000 Wahlberechtigte haben in Deutschland über die umstrittene Verfassungsänderung ihres Namensvetters abgestimmt. An diesem Ostersonntag wird nun auch in der Türkei gewählt. Sind sie erleichtert, dass am Montag alles vorbei ist?
Nicht wirklich, denn was macht das für einen Unterschied? Die Gräben zwischen beiden Lagern sind mittlerweile zu groß. Es gibt nur noch Gegner oder Befürworter des Präsidenten Erdogan. Menschen, die sich in die Mitte stellen, können überhaupt nicht mehr vermitteln. Diese Möglichkeit ist komplett weggebrochen und es könnte lange dauern, bis sich das ändert.
Warum ist es so weit gekommen?
Die Verantwortung dafür trägt zu einem großen Teil die türkische Regierung. Äußerungen darüber, dass Gegner der Reform Terroristen oder Putschisten seien, gingen zu weit. Die Politiker hätten etwas Wind aus der Debatte nehmen müssen, aber besänftigende Worte in Richtung der breiten Wählerschaft haben gefehlt. Wie negativ sich das ausgewirkt hat, sieht man daran, dass viele Deutsch-Türken sich nicht einmal trauen, öffentlich darüber zu
sprechen, für wen sie abstimmen. Allerdings muss auch gesagt werden, dass viele Medien in Deutschland das Zusammenleben der beiden Lager nicht befördert haben. Nach dem Putschversuch in der Türkei demonstrierten tausende Anhänger des türkischen Präsidenten in Köln. Die Presse beschwor vor der Versammlung geradezu ein Weltuntergangsszenario herbei. Zudem wurde so getan, als seien die Demonstranten repräsentativ für alle Deutsch-Türken.
Viele Anhänger des Präsidenten Erdogan sehnen sich geradezu nach einem starken Führer und fühlen sich von der deutschen Gesellschaft überhaupt nicht abgeholt. Woran liegt das?
Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sind seit einem Jahr sehr schlecht. Das hat mit der Armenien-Resolution des Bundestages begonnen, der Höhepunkt war dann das Auftrittsverbot für türkische Politiker in Deutschland. Menschen, deren Träume sich hier nie erfüllt haben oder die sich zum Beispiel diskriminiert fühlen, haben keine feste Identität in der deutschen Gesellschaft. Wenn dann eine starke Persönlichkeit kommt, ist der Zulauf programmiert. Das ist ja innerhalb von rechten Strömungen wie bei Pegida und der AfD nicht anders.
Wo hat es in den deutsch-türkischen Beziehungen denn Versäumnisse gegeben?
Eigentlich überall. Beginnen wir beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Nach sechs Jahrzehnten gibt es immer noch keinen Nachrichtensender, der speziell die deutsch-türkische Community bedient. Besondere Programmangebote hat es für Neuankömmlinge in Deutschland nie gegeben. Man hat die Bühne dadurch vollständig den Türken überlassen. Besonders die ältere Generation konsumiert Nachrichten aus der Türkei. Wenn dort permanent mein Namensvetter, also Präsident Erdogan, gezeigt wird, wirkt sich das auf das Unterbewusstsein der Zuschauer aus. Die wiederum haben nicht unerheblichen Einfluss auf ihre Kinder und Enkelkinder. Im Ergebnis führt das dazu, dass ein Teil der Deutsch-Türken sich wenig für die deutsche Kultur interessiert.
Hat es auch Fehler in der deutschen Integrationspolitik gegeben?
Ja. Selbst 40 Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen wollte man nicht hören, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Politiker haben damit einen Teil deutscher Geschichte schlichtweg nicht akzeptiert – und das hat Folgen. Die Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte wurden weiterhin als Gastarbeiter registriert. Hier geborenen Deutsch-Türken wurde quasi eingeimpft, dass Deutschland nicht ihre Heimat ist. Jemand, der türkische Vorfahren hat und hier als Polizist arbeitet, könnte denken, dass er nicht Teil dieser Gesellschaft ist.
Das klingt nach einer düsteren Zukunftsprognose.
Nein, man kann ja etwas dagegen tun – und zwar: kommunizieren. 90 Prozent der Probleme sind Ergebnisse der Kommunikations- und Sprachlosigkeit.
Wie muss diese Kommunikation konkret aussehen?
In den Dachverbänden mit türkischer Prägung muss thematisiert werden, dass Deutschland die Heimat ist, in der wir alle leben, und dass es keine Rückkehr in die Türkei geben wird. Es muss eine Art Wir-Gefühl entstehen. Nicht mehr übereinander, nebeneinander, sondern miteinander muss gesprochen werden. Natürlich könnte die türkische Politik eine enorme Hilfe leisten, wenn sie das wollen würde. Die deutsche Politik muss hingegen den Rahmen für eine bessere Kommunikation schaffen. Zum Beispiel einen deutsch-türkischen Nachrichtensender einführen, der auch einmal über die schönen Seiten der verschiedenen Kulturen berichtet, die es ja gibt. Dann würden nicht nur die negativen Nachrichten aus der Türkei dominieren.