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Beim Roten Rathaus brennt’s. Die Feuerwehrleute haben die Dauer ihrer Aktion um eine zweite Woche verlängert.
© Paul Zinken/dpa

Protestaktion "Berlin brennt": Die Berliner Feuerwehr ist im Ausnahmezustand

3000 Anrufe unter dem Notruf 112 am Tag, oft zu nichtigen Problemen, halten die Berliner Feuerwehr auf Trab. Der Personalnotstand ist zum Normalfall geworden. Dagegen protestieren die Mitarbeiter nun.

„Berlin brennt“ heißt die Protestaktion von Feuerwehrleuten vor dem Roten Rathaus. Dort brennt seit einer Woche dauerhaft ein Ölfass, Tag und Nacht harren Feuerwehrleute dort aus. Die Aktion wurde nun um eine zweite Woche verlängert, der Slogan „Berlin brennt“ wurde vor zahlreichen Feuerwachen in riesigen Buchstaben auf die Fahrbahn gesprüht. Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat die Protestaktion besucht, der amtierende Feuerwehrchef Karsten Göwecke am Karfreitag ein zweites Mal.

Dabei brennt es in Berlin nur so etwa 7000 Mal pro Jahr. Die Probleme der Feuerwehr liegen ganz woanders. Sie heißen: eingerissener Fingernagel, Bauchweh, tropfender Wasserhahn, Katze auf dem Baum, Pickel am Gesäß. Dies ist ein typischer Querschnitt der Anrufe unter der Notrufnummer 112. Mehr als eine Million Mal pro Jahr klingelt in der Leitstelle eine der 60 Telefonleitungen. Das sind rund 3000 Telefonate am Tag, gut 100 in der Stunde oder zwei pro Minute. Aus etwa jedem zweiten Anruf wird ein Einsatz. Da jeder ein Telefon dabei hat, werden vor allem Feuer von vielen Zeugen gleichzeitig gemeldet. Als kürzlich in Köpenick ein Seniorenheim brannte, riefen 45 Berliner an. Viele hatten von weitem nur die Rauchwolke gesehen, konnten nicht einmal sagen, wo es brennt.

25 Prozent mehr Fehleinsätze als im Vorjahr

2016 gab es 375.000 Einsätze im Rettungsdienst, 7230 zu Bränden und 19.000 zu Technischer Hilfe, zum Beispiel einem Auto in den Tramgleisen. Zudem gab es 53.000 Fehleinsätze oder Erkundungsfahrten, ein satter Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, den niemand so recht erklären kann. Zahlen für 2017 liegen noch nicht vor, dem Vernehmen nach gibt es einen weiteren Anstieg um mehrere Prozent.

„Das verfügbare Personal reicht nicht mehr aus, um Fahrzeuge und Funktionen auch nur annähernd vollständig besetzen zu können“, schreibt die Behördenleitung in ihrer neuesten Mitarbeiterinformation. 27 Mal musste in diesem Jahr intern bereits der „Ausnahmezustand Rettungsdienst“ ausgerufen werden – also etwa jeden dritten Tag. Ausnahmezustand, das Wort kennt man sonst nur von Unwettern. Doch im Rettungsdienst wird der Ausnahmezustand ausgerufen, wenn 90 Prozent der Rettungswagen unterwegs sind. Dann werden Feuerwehrmänner von der Drehleiter und dem Löschfahrzeug auf Rettungswagen umdisponiert.

„Noch“, der Feuerwehrsprecher betont das Wort, „noch bekommen wir das ziemlich gut hin“. Die Not werde so über die Stadt verteilt, dass kein Bezirk ganz ohne Löschfahrzeug sei. Schon jetzt sei die Brandbekämpfung „ein bisschen gefährdet“. „Wenn das weiter zunimmt, dann bekommen wir ein richtiges Problem.“ Übersetzt heißt das: Ein Haus brennt ab, weil die Löschautos aus anderen Bezirken anrücken mussten. Bislang kamen nur die Rettungswagen zu spät.

Neben dem derzeit sehr hohen Krankenstand seien verschärfte Vorschriften für die Besetzung eines Rettungswagens schuld an der Misere. Und neben der derzeitigen Grippewelle dürften auch Frust und Überlastung den Krankenstand in die Höhe treiben. Für Unmut sorgt auch das neue Dienstplan-Modell. Die Frau eines Feuerwehrmanns rechnete vor, dass sie im Jahr nur noch sechs komplette gemeinsame Wochenenden mit ihm habe.

Die Leitstelle muss allen Anrufern exakt vorgegebene Fragen in einer bestimmten Reihenfolge stellen

Die Not ist schon so groß, dass ab sofort keine Rettungswagen mehr zu ausgelösten Feuermeldern ausrücken. Denn aus Erfahrung weiß die Feuerwehr, dass nahezu 100 Prozent aller ausgelösten Brandmelder Fehlalarme sind. Für den 112-Anrufer ist der Notstand vor allem an der Warteschleife zu erkennen, in die er gerät. 2014 legten 176.000 von insgesamt 1.054.000 Anrufern auf, bevor die Leitstelle abhob. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Es dürften mehr geworden sein. Seit vielen Jahren steigt die Zahl der Rettungsdiensteinsätze ebenso stark wie kontinuierlich. Daran ist auch die seit 2005 verwendete Software schuld. Die Leitstelle muss allen Anrufern exakt vorgegebene Fragen in einer bestimmten Reihenfolge stellen. Wenn da ein Mensch mit Herzinfarkt auf der Straße zu sterben droht, kommt das vielen Menschen wie reiner Irrsinn vor, wenn erstmal nach der Rückrufnummer gefragt wird.

Es war Wilfried Gräfling, der scheidende Feuerwehrchef, der das „Standardisierte Abfrageprotokoll“ (Snap) vor vielen Jahren in Berlin einführte. Die Kritik daran hörte nie auf. Und die Kritik ist einfach zu benennen. Früher konnte ein erfahrener Beamter am Notruf das Gespräch etwa mit diesen Worten schnell beenden: „Für ihr Problemchen sind wir nicht zuständig“ – also für die Fingernägel, das Bauchweh und die Pickel. Heute muss sich die Leitstelle streng an Snap halten, im Zweifelsfall fährt immer ein Rettungswagen. Die Behördenleitung kritisiert in ihrem Mitarbeiterschreiben gerade wieder die „gestiegene Anspruchshaltung der Bürger für ihre medizinische Versorgung, die unser System im Notfallrettungsdienst an seine Grenzen bringt“. Dabei ist das Problem sehr alt. 2007 zitierte der Tagesspiegel im Artikel „Feuerwehr schlägt Alarm“ den damaligen Innensenator Ehrhart Körting, der die Anspruchshaltung der Berliner kritisierte, die wegen „eingewachsener Fußnägel“ die 112 wählen. Noch länger wird diskutiert, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) einen Teil der Einsatzfahrten übernehmen könnte, müsste, sollte.

In den nächsten beiden Jahren sollen 354 neue Mitarbeiter eingestellt werden

Geschehen ist nichts. Jetzt kündigt die Behördenleitung an, Snap so zu ändern, dass Einsätze über eine Schnittstelle direkt an die KV weitergegeben werden können. Wie groß der Effekt eingeschätzt wird, ist unklar. Eine Arbeitsgruppe tagt. Seit mindestens 15 Jahren benennt die Feuerwehr auch die zunehmende Einwohnerzahl und die älter werdende Bevölkerung als Grund für Probleme. Daraus resultierte – nichts.

Verschärft wurde die Situation durch die Sparen-bis-es-quietscht-Mentalität Anfang der Nuller Jahre durch die rot-rote-Koalition. Umgesteuert wurde erst in den vergangenen Jahren, etwas durch CDU-Innensenator Frank Henkel, verstärkt durch SPD-Nachfolger Andreas Geisel. In den nächsten beiden Jahren sollen 354 neue Mitarbeiter eingestellt werden. Die auch für die Feuerwehr zuständige Gewerkschaft der Polizei fordert sogar 1100 zusätzliche Stellen. Dass solch ein Ausbildungs-Kraftakt neue Probleme schafft, erlebt gerade die Polizei an ihrer Schule. Wie es bei der Feuerwehr hieß, mangele es nicht nur an Sanitätern – sondern auch an Sanitäter-Ausbildern.

Es gibt also viele Gründe, dass vor dem Roten Rathaus eine Tonne brennt. Bei seinem Besuch versprach der Innensenator: „Ich weiß, dass wir etwas tun müssen. Und wir tun etwas.“

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