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Einer der ersten. Ismail Özbek wohnt seit Jahrzehnten in Kreuzberg. Zeitweise arbeitete er in einer Garnfabrik.
© Doris Spiekermann-Klaas

Gastarbeiter in Berlin: Die Aufbaugeneration

Als 1961 das Anwerbeabkommen unterzeichnet wurde, lebten 281 Menschen mit türkischen Wurzeln in Berlin. Heute sind es 180 000. Eine Begegnung mit vier Männern der ersten Stunde.

Ismail Özbek schlüpft in seine Galoschen, klappt den Kragen des Wollmantels hoch und stapft los, in Richtung Vergangenheit. Die ist nicht weit von der Gegenwart entfernt. Der 74-Jährige muss nur aus der Tür des Hauses an der Muskauer Straße in Kreuzberg treten, in dem er seit Jahrzehnten lebt. Denn ein großer Teil von Özbeks Vergangenheit hat sich hier im Kiez um den Mariannenplatz abgespielt. Seit 1969 lebt er hier. An der Ecke Naunyn-/Mariannenstraße bleibt er stehen: „Als ich hierher gezogen bin, war alles kaputt, überall Einschusslöcher aus dem Krieg. Wie ein Schrottplatz sah es hier aus. Türkische Leute haben die Geschäfte repariert, auch an der Oranienstraße.“

Heute stehen dort zwei ordentliche braunrosa Häuser aus den Achtzigern auf der einen Seite. Die Altbauten auf der anderen wirken ebenfalls nicht ungepflegt. Man sieht ausschließlich türkische Geschäfte: Supermarkt, Spätkauf, Bäckerei. Im Lauf der Achtziger hätten die türkischen die deutschen Läden ersetzt, sagt Özbek. In dem Supermarkt etwa war vorher ein Penny-Discounter.

Dass die Straßenecke so aussieht und auch dass Ismail Özbek an diesem Oktobernachmittag im Jahr 2011 hier steht, liegt an einem Vertrag, der am 30. Oktober 1961, vor genau 50 Jahren in Bad Godesberg, unterzeichnet wurde: Deutschland und die Türkei schlossen ein Anwerbeabkommen, das türkische Gastarbeiter nach Deutschland holen sollte. Ohne diesen Vertrag würde Berlin heute ganz anders aussehen. Nur 284 Türken lebten 1961 in Berlin. Beim Anwerbestopp 1973 waren es schon 79 468. Und heute haben hier fast 180 000 Menschen und damit rund fünf Prozent der Berliner einen türkischen Migrationshintergrund.

„Ich bin ganz allein mit einem Koffer gekommen, heute leben fünf Kinder, 16 Enkel und eine Urenkelin hier“, sagt Ismail Özbek zufrieden. Zwei Jahre wollte er eigentlich nur bleiben, wie es das Abkommen zunächst vorschrieb. Er arbeitete in einer Garnfabrik in Zehlendorf, im Eternit-Werk und baute schließlich 17 Jahre lang an mehr als 500 Straßen mit. Seine Frau kam etwas später nach und fand einen Job in einem Krankenhaus. Sie teilte dort Essen aus und machte sauber.

Die Gastarbeiter zogen mit ihren Familie in Sanierungsgebiete wie die Gegend am Mariannenplatz, oft in der Nähe der Mauer. Dorthin wo Häuser verfielen und abgerissen werden sollten. Eine Übergangslösung, glaubten die Vermieter. Mitte der 70er lebte im Haus der Özbeks nur eine weitere türkische Familie. Heute ist es umgekehrt, nur zwei deutsche Namensschilder finden sich am Vorderhaus. Doch die Kinder der Gastarbeiter verlassen Kreuzberg. Özbeks jüngstem Sohn etwa ist es dort zu unordentlich, er wohnt in Tempelhof.

Ismail Özbek
Ismail Özbek
© Privat

Auch Ali Degirmenci, ebenfalls 74, wohnt schon seit Jahrzehnten in derselben Straße: ein paar Kilometer weiter westlich an der Johanniterstraße beim Jüdischen Museum: seit 1965, dem Jahr in dem er nach Berlin kam. „Genau hier war das Gastarbeiterheim, in dem ich die ersten Monate verbracht habe“, sagt Degirmenci. Er zeigt dabei auf die silberne Metallwand des Libeskind-Baus des Jüdischen Museums. Ein Altbau sei damals hier gewesen, in dem die Eternit AG ihre Gastarbeiter wohnen ließ. Degirmenci arbeitete nicht lange für die Firma. Bei Sarotti stellte er dann Schokolade her, war beim Bau des Kreuzberger Urban-Krankenhauses dabei und landete schließlich als Gussputzer in einer Aluminiumfabrik in Neukölln – 26 Jahre lang. „Da hab ich sehr schön Geld verdient“, sagt er. An der Sonnenallee war die Stammkneipe der Arbeiter. Mit drei türkischen und sechs deutschen Kollegen ging er dort jeden Freitagabend hin. Seine Frau lernte er aber „auf dem Rummel auf dem Mehringplatz beim Autoscooter“ kennen. Eine blonde Deutsche, mit der er jetzt seit 41 Jahren verheiratet ist, drei Kinder und drei Enkel hat: „Ich bin ein glücklicher Mann“, sagt er. Auch, weil er in „der schönsten Stadt Europas“ lebt.

Ganz so euphorisch ist Erdogan Özdoncer, 75, nicht. Aber er findet, dass „Berlin durch die Türken viel lebendiger geworden ist“. Der gelernte Maurer hat in Deutschland keine schlechte Karriere gemacht: erst Arbeiter bei Ford in Köln, dann Hallendolmetscher bei Siemens in Berlin und schließlich Berater beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Dort kümmerte er sich um die Probleme der Gastarbeiter. Heute leitet er einen Rentnerverein an der Allerstraße in Neukölln, in dem ältere Menschen türkischer Herkunft Karten spielen oder sich über ihre Rente beraten lassen. Er lebte erst in Wedding, auch gleich an der Mauer: „Wir haben oft Schüsse von der Grenze gehört.“ Dann 35 Jahre in Spandau und jetzt in Tiergarten.

Gutes Blatt. Erdogan Özdoncer fand einen Job als Dolmetscher in Berlin und arbeitete dann für den DGB. Heute engagiert er sich in einem Rentnerverein.
Gutes Blatt. Erdogan Özdoncer fand einen Job als Dolmetscher in Berlin und arbeitete dann für den DGB. Heute engagiert er sich in einem Rentnerverein.
© Doris Spiekermann-Klaas

Auch Ali Bulut ist quer durch die Stadt gezogen: 1970 startete er an der Sonnenallee in Neukölln, wohnte dann an der Bergmannstraße in Kreuzberg und lebte schließlich 30 Jahre lang in Charlottenburg. Heute wohnt er in dem Block an der Pallasstraße in Schöneberg, zu dem mancher immer noch abfällig „Sozialpalast“ sagt. Oft findet man ihn in einem Eiscafé ganz in der Nähe. Dort sitzt er und lässt die Perlen einer Tasbih-Gebetskette durch die Finger laufen.

Ali Bulut war schon vierzig, als er nach Deutschland kam und ist heute 83. Anders als die anderen drei hat er nur sehr wenig Deutsch gelernt. Ohne Dolmetscher kann man sich kaum mit ihm unterhalten. Bei seiner Arbeit bei der Post am Gleisdreieck seien alle Kollegen Türken gewesen, Deutsche habe er nie richtig kennengelernt. Deshalb kann er nicht so poetische Sätze sagen wie Ismail Özebek: „Ich habe meine Augen zur Welt erst in Berlin geöffnet.“

Daniela Martens

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