Berlin: „Die Ärzteversorgung ist in Berlin sehr ungleich verteilt“
Gesundheits- und Sozialsenator Mario Czaja (CDU) will mehr Praxen in unterversorgten Bezirken und findet, Pflegekräfte bekommen zu wenig Geld Im Interview sagt er außerdem, wie seine Partei im Osten weiter zulegen will, warum er etwas gegen das Kiffen hat und was er vom Beschneidungsurteil hält.
Herr Czaja, wann haben Sie eigentlich das letzte Mal gekifft?
Das ist sehr lange her, ich war 18 oder 19 Jahre alt – und ich fand es so widerlich, dass ich es nie wieder versucht habe.
Will die CDU deshalb den straffreien Eigenbedarf von Cannabis von 15 auf sechs Gramm senken?
Wir hatten dazu eine Experten-Anhörung. Die Ergebnisse werden wir nun mit dem Koalitionspartner auswerten. In Berlin rauchen Jugendliche übrigens deutlich mehr Marihuana als in den meisten anderen Bundesländern.
Was sagen Sie zur Beschneidungsdebatte?
Die Signalwirkung des Kölner Urteils ist auch hier in Berlin zu spüren. Grundsätzlich handelt es sich um einen Eingriff, der sowohl aus religiösen als auch aus medizinischen Gründen etabliert ist. Er sollte weiter unter medizinischer Aufsicht erfolgen, um Gefahren auszuschließen.
Sie haben eine neue Hygieneverordnung erlassen. Nun müssen Kliniken ab 300 Betten eine Hygieneschwester beschäftigen, ab 400 Betten einen Hygienearzt. Damit braucht in Berlin aber nur die Hälfte aller Krankenhäuser einen Hygieneexperten. Finden Sie das nicht bedenklich?
Nein, die Verordnung enthält viele Vorschriften, die für alle Kliniken und nun auch für Pflege- und Reha-Einrichtungen gelten. So wird eine Hygienefachkraft nicht mehr pauschal erst ab 300 Betten eingesetzt, sondern je nachdem, wie hoch das Infektionsrisiko ist. Im Hochrisikobereich wie Geriatrien oder Intensivstationen muss bereits auf 100 Betten eine Hygienefachkraft kommen.
Schon jetzt werden Infektionen mit Klinikkeimen registriert. Sollten solche Daten veröffentlicht werden?
Die Daten aus den einzelnen Häusern sind schwer vergleichbar und zudem unverständlich für den Laien. Die Frage ist auch, was man mit einer pauschalen Veröffentlichung wirklich erreicht: Die wirkungsvolle Bekämpfung von Krankenhausinfektionen oder eher einen Wettbewerbsdruck, der zu verfälschten Ergebnissen führen könnte? Im Übrigen muss man wissen, dass rund zwei Drittel der im Krankenhaus erworbenen Infektionen unvermeidbar sind.
Die Berliner CDU hat sich den demografischen Wandel vorgenommen. Unter Rot-Rot gab es dazu kaum mehr als warme Worte. Bei Ihnen sieht man bislang allerdings auch nicht viel mehr.
Die Herausforderungen sind eben nicht so, dass sie nur von einer Senatsverwaltung angegangen werden können, das ist eine Aufgabe des gesamten Senats. Zur Frage, wie man möglichst lange in den eigenen vier Wänden alt werden kann, haben wir Vorschläge für das Pflegeneuausrichtungsgesetz eingebracht, das der Bundestag beschlossen hat. Leider wurden nur wenige davon aufgenommen.
Sie könnten ja auch die Berliner Bauordnung so ändern, dass Wohnungen leichter von Barrieren für ältere Menschen und Rollstuhlfahrer zu befreien…
Für die Bauordnung liegt die Federführung bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Die kennen unsere Vorschläge und arbeiten dran. Aber Sie haben Recht: Es muss natürlich noch mehr passieren als die reine Willensbekundung, sich des Themas anzunehmen. Solch anspruchsvolle Fragen, die zwischen so vielen Senatsverwaltungen beraten werden müssen, kann man nicht in sechs Monaten klären.
Wer in weniger wohlhabenden Vierteln einen Kinder- oder Augenarzt braucht, muss lange fahren oder ewig auf einen Termin warten. Wie wollen sie die Abwanderung von Ärzten in Gegenden mit wohlhabenderer Klientel verhindern?
Tatsächlich ist die ambulante Versorgung sehr ungleich verteilt. Die Ausstattung mit Psychotherapeuten liegt beispielsweise in Marzahn-Hellersdorf bei 33 Prozent, in Charlottenburg-Wilmersdorf aber bei 400 Prozent. Seit diesem Jahr ist das neue Versorgungsstrukturgesetz in Kraft, wir können langfristig mit den Kassen und Ärzten wieder über eine Bedarfsplanung nach Bezirksgrenzen verhandeln. Ein erster Schritt ist erfolgt, kürzlich wurden 74 zusätzliche Arztsitze genehmigt, die vorrangig in Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Neukölln zugelassen werden.
Sie sitzen im Aufsichtsrat von Vivantes. Ausgerechnet der landeseigene Klinikkonzern hat sich mit seinen Pflegeheimen vom „Berliner Modell“ verabschiedet. Das Modell sieht vor, dass Heime einen eigenen Arzt beschäftigten, damit Bewohner nicht dauernd in die Klinik müssen...
... ich unterstütze das Berliner Modell und bedauere die Entscheidung. Vivantes hat nun sinnvollerweise Verträge abgeschlossen, wonach Praxisärzte ihre Patienten regelmäßig in den Heimen aufsuchen.
Die Verträge gelten aber nur für Heimbewohner, die bei bestimmten Krankenkassen versichert sind! Will Vivantes sparen?
Diese Entscheidung hatte sicher auch ökonomische Gründe.
Apropos Ökonomisches. Wer Vollzeit für einen Pflegedienst arbeitet, bekommt zuweilen keine 1400 Euro brutto im Monat. Müssten nicht zunächst die Löhne steigen, gerade weil mehr Menschen in der Pflege gebraucht werden?
Die Löhne in der Pflege sind tatsächlich oft zu niedrig. Darauf haben wir aber nur begrenzten Einfluss. Tarifverträge werden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern eigenständig ausgehandelt. Dort wo wir Einfluss auf die Höhe der Löhne für die Pflegekräfte haben, wie beispielsweise bei den Vergütungsvereinbarungen mit dem Land, müssen die Pflegeeinrichtungen ihre tatsächlichen Aufwendungen darlegen, so auch ihre Personalausstattung. Wir wollen, dass sich alle Pflegedienste an den Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde halten. Die Verhandlungen zur Vergütung der ambulanten Dienste durch Kassen und Ämter laufen übrigens gerade.
Die Berliner Patientenbeauftragte Karin Stötzner ist nun auch für Pflegefragen ansprechbar. Ist das nicht ein bisschen viel?
Frau Stötzner hat dazu eine neue Mitarbeiterin. Falls nötig, werden wir über weitere Ausstattung nachdenken.
An der SPD-Spitze haben sich in letzter Zeit senatskritische Kräfte wie Parteichef Stöß und Fraktionschef Saleh durchgesetzt – macht das Zusammenarbeit in der rot-schwarzen Koalition schwieriger?
Mein Eindruck ist nicht, dass Raed Saleh und Jan Stöß senatskritische Kräfte sind. Mein Eindruck ist, sie verhalten sich koalitionstreu.
Zumindest arbeiten sie gegen Senatsprojekte wie die S-Bahn-Ausschreibung.
Für SPD und CDU gilt die Koalitionsvereinbarung. Nach meinem Eindruck wollen auch Jan Stöß und Raed Saleh diese bis 2016 ordnungsgemäß umsetzen.
Wie groß ist in Ihrer Arbeit die Überschneidung mit Ihren Vorgängerinnen von der Linkspartei? Im Mai haben sie Hartz-IV- Empfängern mehr Geld für Miete und Heizung gewährt, was man von einem CDU- Senator nicht unbedingt erwartet hätte…
Was ich nicht fortgesetzt habe, ist das Ignorieren von Urteilen, eine neue Rechtsverordnung vorzulegen. Seit 2010 sollte das Land eine rechtssichere Verordnung auf Grundlage der Sozialgerichtsurteile einführen, aber die Linkspartei hat versucht, Opposition und Regierung zugleich zu sein. Und was die anderen großen Sozialfonds angeht: Die Grundlagen stammen aus den 1980er Jahren von CDU-Senator Ulf Fink. Dass Rot-Rot viele Dinge davon fortgeführt hat, war nicht falsch.
CDU-Generalsekretär Kai Wegner hat angekündigt, die Union vor allem im Ostteil der Stadt stärken zu wollen – was kann die Union von Ihnen als erfolgreichem CDU- Politiker aus Hellersdorf lernen?
Im Ostteil der Stadt haben viele das Gefühl, dass ihre Lebensleistung und ihre Erfahrung wenig Beachtung findet. Viele sahen in der Linkspartei ihre Interessenvertretung – das hat sich geändert, und meine Partei konnte im Osten der Stadt Vertrauen zurückzugewinnen. Innensenator Frank Henkel steht mit seiner Biografie für beide Stadtteile. Ich glaube, dass dies ein Grund war, dass wir 2011 östlich des Brandenburger Tors 22 000 Stimmen hinzugewonnen haben.
Aktuell wird kontrovers über die vorgeburtliche Selektion diskutiert, Anlass sind die neuen Bluttests auf das Down-Syndrom – wo stehen Sie in der Debatte?
Mir fällt es schwer, in so jungen Jahren einen ethischen Maßstab vorzulegen. Jede Familie, jede werdende Mutti, jeder werdende Vati muss dies für sich selbst entscheiden.
Was halten Sie eigentlich von den Piraten?
Als die Piraten ins Parlament kamen, habe ich darin eine Chance für die Weiterentwicklung des Parlamentarismus gesehen. Die ersten Monate sehe ich noch als notwendige Einarbeitung. Aber auch danach kam wenig Substantielles. Das gilt allerdings nicht für den Kollegen Alexander Spies, der in seiner Fraktion für die Sozialpolitik zuständig ist. Er nimmt die Chancen im Parlament ernst.
Das Interview führten Ingo Bach,
Hannes Heine und Lars von Törne
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