Magazin am Sonnabend: "Der Wedding ist ehrlich und rau" - neue Ausgabe des "Tagesspiegel Berliner"
Heute erscheint das zweite Heft „Tagesspiegel Berliner“. Diesmal dreht sich alles um den Stadtteil, der immer im Kommen ist. Und dort stieg auch die Launch-Party.
Echte Kneipenatmosphäre braucht nicht viel: dichte Rauchschwaden, eine klapprige Jukebox, Gelsenkirchener Barock. Wo sonst die Billardkugeln rollen und die Dartpfeile fliegen, herrscht am Donnerstagabend dichtes Gedränge. Mehr als 100 geladene Gäste versammeln sich im Café Morena in der Malplaquetstraße, um auf die zweite Ausgabe des Magazins „Tagesspiegel Berliner“ anzustoßen. Dessen Motto lautet zwar „Für Berlinerinnen und Berliner. Weltweit.“ Doch der Mittelpunkt des Abends und des Heftes liegt diesmal vor der Haustür: Wedding.
Das hier andere Regeln gelten, als im Rest von Berlin, fällt direkt ins tränende Auge: Nicht die Raucher ziehen sich in einen abgetrennten Bereich zurück. Es gibt einen Nichtraucherraum im hinteren Teil der Kneipe. Die Zwanglosigkeit des Stadtteils macht sich auch im Dresscode bemerkbar. Waren bei der Feier zum ersten Heft noch viele Anwesende in Anzügen zu sehen, dominierte am Donnerstag bequeme Freizeitkleidung das Bild. Auf dem Titelblatt der neuen Ausgabe ist ein schöner Satz zu lesen: „Der Wedding ist ehrlich und rau. Man muss viel sprechen, um zueinander zu finden – darin liegt die große Chance.“ Ehrlich und ein bisschen rau geht es auch auf der Feier zu, und auch menschlich.
Vielfalt des Weddings in Fotos
Wolle, der ehemalige Besitzer des Café Morenas nimmt die Anwesenden mit auf eine Zeitreise in das Wedding der 1970er-Jahre. Der heute 80-Jährige hatte den Laden damals beim Kartenspielen gewonnen. Er war für kurze Zeit mit der jetzigen Besitzerin der Kneipe verheiratet. Seit Jahren ist er Stammgast bei seiner Ex-Frau. Beide fallen sich auf der Bühne um den Hals. Geschichten, die nur der Wedding schreibt. Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt erklärt den Anwesenden, was eine echte Weddinger Kneipe wie das Café Morena ausmacht: „Es gibt keine Cola light.“
Neben ihm steht der Grafiker Axel Völcker. Einst lebte er über der Bar. Er schlug nicht nur einen Durchbruch in die Wand, um eine WG zu gründen. Auch die Liebe zu Wedding brach hier in ihm aus. Später benannte Völcker sogar sein Magazin nach dem Ortsteil: „Der Wedding“ – ausgezeichnet mit dem Bundesdesignpreis. An diesem Abend berichtet er von der Kunst, den Charme des Ortsteils in einem Foto einzufangen. Durch die Linse der Kamera habe sich die Vielfalt des Weddings für ihn noch einmal bildhaft manifestiert. Beeindruckende Zeugnisse davon hinterließen eine Vielzahl von Fotografen im Heft. Dorothee Deiss porträtiert Eltern und ihre Kinder im Wartezimmer, Tobias Kruse begibt sich auf die Suche nach der grünen Seite des Alt-Bezirks und Annette Hauschild fotografierte in Weddinger Kneipen – unter anderem im Café Morena.
Große thematische Bandbreite
Gibt es bei so viel Inhalt noch einen besonderen Höhepunkt? Der Heftverantwortliche Jan Oberländer zuckt mit den Schultern, er könne „durchweg alles empfehlen“. Überhaupt hätte man nie Angst gehabt, nach dem gelungenen Erstheft keinen würdigen Nachfolger nachzulegen: „Wir haben viel zu viele Ideen und können gar nicht warten, bis das nächste Heft erscheinen soll.“ In den Tischgesprächen werden die thematischen Inhalte des neuen Heftes diskutiert. Ist nun die Einführung des Satirikers Shahak Shapira in den „Tagesspiegel Berliner“ zu vulgär ausgefallen („Schon wieder so ein Wedding-Gewichse“)? Wie bewertet man die Einblicke in die Abgründe der Kunstbranche, in die der Galerist Michael Schultz den Leser blicken lässt?
Diskussionsstoff für einen ganzen Abend liefert die Ausgabe. Von der Ermittlungsarbeit gegen Kinderpornografie, über eine kommunistische Nonne bis zur schweigenden Judith Holofernes. Einig waren sich letztlich alle bei einem Punkt: Das Heft ist so vielfältig und abwechslungsreich wie der Wedding selbst. Der Abend neigt sich langsam dem Ende entgegen. In der Bundesliga-Stecktabelle, die an der Wand hängt, ist Hertha mittlerweile Tabellenführer. Aus der Jukebox verabschiedet sich Bonnie Tylor von den Gehenden mit „It’s a heartache“. Ihre Stimme schallt in die Weddinger Nacht hinaus. Rau und ehrlich.
Der „Tagesspiegel Berliner“ liegt der Sonnabend-Ausgabe des Tagesspiegels bei.
Hannes Soltau