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Die Welt der steinernen Geister. Nur wenige, die oben auf den Kreuzberg steigen, wissen von den Schätzen in seinem Inneren.
© Mike Wolff

Geheime Orte in Berlin: Der Schatz im Kreuzberg

Über dem Viktoriapark thront das Nationaldenkmal Karl Friedrich Schinkels mit Blick über ganz Berlin. Darunter verborgen ist ein Gewölbe, das einer Kathedrale gleicht. Ein Spaziergang durch diese Unterwelt und zu weiteren Spuren alter Zeiten.

Die Fledermäuse sind nun ausgeflogen. Allein ein paar dunkle Kästen an den Wänden oder auf Säulen sind als verlassene Gehäuse geblieben, das Große Mausohr und seine Artgenossen hat es schon seit Frühlingsbeginn in den Süden gezogen. Nur den neugierigen Menschen, der zuvor ihren Winterschlaf nicht stören wollte, zieht es jetzt hinein und hinab in diese Welt, wo auch andere Geister in ihrer immerkühlen Gruft wie Untote als Zeugen ganz anderer Zeiten ruhen.

Es ist ein verwunschener Ort, obwohl er, wenngleich von außen unsichtbar, so herausgehoben liegt. Der Kreuzberg ist mit 66 Metern überm Meeresspiegel Berlins höchste natürliche Erhebung, und auf ihr thront noch aus grün gestrichenem Gusseisen die knapp zwanzig Meter hohe Turmspitze des „Nationaldenkmals für die Befreiungskriege“. Es ist den zwischen 1813 und 1815 siegreich geschlagenen Schlachten gegen den Franzosenkaiser und einstigen Besatzer Napoleon Bonaparte gewidmet – als frühe Vorahnung auch einer preußisch-deutschen Einheit.

Das Denkmal wurde vor bald zweihundert Jahren, am 30. März 1821, von Preußens König Friedrich Wilhelm III. eingeweiht. Heute hat man vom Kreuzberggipfel einen der schönsten Blicke über Berlin, zudem lockt der felsig-romantisch angelegte Wasserfall inmitten des den Hügel umgebenden Viktoriaparks mit seiner weiten Sonnenwiese zu Füßen des Denkmals. Was jedoch wenige wissen: Unter dem von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Monument verbirgt sich eine zweite, fürs ahnungslose Auge verborgene Attraktion.

Nur sommers ohne Sonar. Im Winter ist das Gewölbe den Fledermäusen vorbehalten.
Nur sommers ohne Sonar. Im Winter ist das Gewölbe den Fledermäusen vorbehalten.
© Mike Wolff

Besucher, die über die Treppen zur achteckigen Aussichtsplattform des Schinkel-Turms emporsteigen, glauben, sich einfach auf den Fundamenten des Denkmals zu bewegen. Tatsächlich aber liegt darunter ein riesiger künstlicher Hohlraum mit weiteren Monumenten. Wie ein Stück auratischer Unterwelt der preußisch-berlinischen Geschichte.

Der Herr dieser Unterwelt, der sie nun wieder bis zum Oktober auf Anmeldung (telefonisch unter 030 / 90298 - 2624) vor einem der entgegenwehenden Kälte und wachsenden Neugier schaudernden Publikum öffnet, ist Frank Körner. Er geleitet uns um den an der Rückseite bunkerartig wirkenden, nur mit ein paar schießschartenähnlichen Luft- und Lichtschlitzen versehenen Sockel des Denkmals herum zu einer graugrünen Eisentür. Der Ortsunkundige hätte diesen von einem jetzt blühenden Flieder halb verdeckten Einlass glatt übersehen, doch Herr Körner entriegelt die schmale, doppelt gesicherte Pforte und führt, Sesam öffne dich, hinein in das erst düstere, auf Knopfdruck plötzlich von Scheinwerfern erhellte Backsteingewölbe. Ein hohes, in zwei Kreisen umlaufendes Unterhaus. Es könnte auch die Krypta einer Kathedrale sein, die es darüber nicht gibt.

Freilich hatte Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), Preußens größte Doppelbegabung als Maler und Architekt, für den König und die erstarkt mitwirkende Berliner Bürgerschaft ursprünglich einen „Befreiungsdom“ errichten wollen: als neugotische Kirche auf dem soeben nach dem Ort der anti-napoleonischen Völkerschlacht benannten Leipziger Platz. Aber die Staatskasse war nach dem großen Krieg zu leer, so spendierte der König aus eigener Schatulle 85 000 Taler – für die Turmspitze einer nicht vorhandenen Kathedrale. Ausgeführt ist sie in der Manier des Straßburger Münsters oder Kölner Doms, in jener lanzenspitzen Gotik, die man im Anklang an ein Diktum Goethes als urdeutschesten Stil empfand.

Vom Weinberg zum Kreuzberg

Es war ein vergleichsweise bescheidenes Bauwerk, weit vor den Toren der Stadt auf dem allerdings schon aus der Ferne sichtbaren Tempelhofer Berg. Der Berg, welcher eigentlich nur ein Hügel ist am südlichen Rande des einstigen berlin-brandenburgischen Urstromtals und auch als Sandberg oder Weinberg bezeichnet wurde, ist erst durch das zwischen 1818 und 1821 erbaute Nationaldenkmal zum Kreuzberg und späteren Namensgeber des angrenzenden Stadtteils geworden. Schinkels Turmspitze nämlich krönt jenes Eiserne Kreuz, das der Meister als zunächst nicht allein militärische Auszeichnung erfunden hat. Das an die Form eines griechischen Kreuzes angelehnte Symbol ziert jeweils auch die in den 12 Nischen des eisernen Turms rundum platzierten „Genien“ oder allegorischen Widmungsfiguren zur Erinnerung an die Siege im Kampf gegen Napoleon.

Herr der Unterwelt. Frank Körner führt für den Bezirk durch das Lapidarium.
Herr der Unterwelt. Frank Körner führt für den Bezirk durch das Lapidarium.
© Mike Wolff

Diese Allegorien im Gestus antiker Helden- und Göttergestalten, doch mit den Gesichtszügen von Mitgliedern des Königshauses oder von Feldherren wie Blücher, Bülow und York, wurden von Schinkels Kollegen, den Bildhauern Christian Daniel Rauch, Friedrich Tieck und Ludwig Wichmann gestaltet. Der Reigen beginnt, nach Norden zur Stadtmitte hingewandt, mit der Völkerschlacht von Leipzig 1813 und endet mit dem Symbol von Belle-Alliance bei Waterloo 1815 (der östlich des Kreuzbergs verlaufende Mehringdamm hieß bis 1945 Belle-Alliance-Straße). Rauch, der begabteste Schüler des Klassizisten Johann Gottfried Schadow, hat für die Allegorie der Eroberung von Paris im März 1814 übrigens das Antlitz der 1810 verstorbenen Preußenkönigin Luise gewählt. Bei der Besetzung Preußens war sie Napoleon persönlich entgegengetreten: als unbewaffnete Mutter und Frau. Die als „schöne Luise“ Verehrte hält in ihrer Rechten die von Napoleon vorübergehend nach Paris entführte Quadriga vom Brandenburger Tor.

Ende des 18. Jahrhunderts war die Wagenlenkerin der Quadriga von Johann Gottfried Schadow zur Krönung des (von Carl Gotthard Langhans stammenden) Brandenburger Tors noch als Verbindung von Sieges- und Friedensstifterin entworfen worden. Das Eiserne Kreuz und den preußischen Adler überm Eichenlaub erhielt sie erst später von Schinkels Hand, der die mutig sanfte Luise, wie dann auch Rauch am Kreuzberg, in die Siegesgöttin Victoria verwandelt hat.

Viele dieser Spuren, auch zum großen Bildhauer Schadow (1764-1850), führen heute in die Gelasse im Sockel des Nationaldenkmals. Dort fällt der erste Blick allerdings auf ein neben allen Monumenten winziges Schild mit dem Hinweis „Fledermauskolonie“. Rund 400 Exemplare überwintern hier; sie fliegen durch die erwähnten Lichtschlitze ein, hinter die man Gitterstäbe gesetzt hat, um die Konkurrenz durch Tauben zu verhindern. Ein größeres Winterquartier, das bedeutendste Deutschlands, finden die unter Naturschutz lebenden Fledermäuse in Berlin nur in den Mauerwällen der Zitadelle Spandau. Und auch nach Spandau gibt es alte und neueste Verbindungen vom Kreuzberg. Nicht nur aus Fledermauskulturen - hierzu gleich mehr.

Ein Berliner Kyffhäuser

Wer's weiß, der sieht's: Hierdrin ist jede Menge Platz.
Wer's weiß, der sieht's: Hierdrin ist jede Menge Platz.
© Mike Wolff

Vom Frühjahr bis zum Herbst betreten nun also auch Menschen die sonderbare Gruft. Geraten auf staubigem Sand- und Felsboden oder vor nicht weniger staubigen Podesten an ein Sammelsurium von Reliefen, Friesen, Statuen, steinernen Kriegern, Handwerkern, Frauenbildern. Ein Arsenal mythischer, antikischer Skulpturen, gereckter Körper, oft fragmentarischer Glieder und geisterhafter Gesichter. Darunter ein 50 Meter langes Monumentalwerk, ein wahrer Schatz: das Original von Schadows berühmtem Münzfries. Nicht weit davon auch Teile eines Pferdes, und wir ahnen etwas in Richtung: Brandenburger Tor und Quadriga.

Zwischen den Pfeilern ragt zudem geschätzt zehn Meter hoch eine bizarr interessante, rostige Konstruktion empor – und die Frage nach ihr rührt gleich an den springenden oder besser gesagt tragenden Punkt des Ganzen. Denn Frank Körner erklärt: „Es ist das originale Skelett des Denkmals.“

Tatsächlich wurde das Monument bis in die 1990er Jahre restauriert und dabei der innere Aufbau des Turms ausgetauscht: vom patriotischen Gusseisen („Gold geb ich für Eisen“ lautete während der Napoleonkriege die Parole) in modernen Edelstahl. Körner weist drauf hin, dass auch das Originalskelett mittlerweile von Stahlschrauben zusammengehalten wird. Ob Kunst oder Technik, Herr Körner, ein statiöser Mann mit Berliner Witz, weiß alles bis ins Detail und trägt zum Beleg noch eine eigene Handakte mit Ablichtungen seltener kulturhistorischer Dokumente mit sich.

Die gibt er nicht aus der Hand. Unser Führer durch die Unterwelt war bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Bauleiter für Versorgungstechnik im Kreuzberger, später Friedrichshain-Kreuzberger Hochbauamt. Seit über zwanzig Jahren leitet der Hobbyhistoriker und Privatgelehrte nun besondere Gäste oder Gruppen von maximal 40 Personen in der fledermausfreien Zeit einmal im Monat ehrenamtlich rund um das Nationaldenkmal und dann ins Sockelgeschoss des Monuments. Wie aber ist das möglich?

Die kennt man. Und zwar vom Brandenburger Tor.
Die kennt man. Und zwar vom Brandenburger Tor.
© Mike Wolff

Schinkel hätte es nicht vorausgesehen. Sein Werk nämlich besaß gar keinen doppelten Boden. Als aber nach der Reichseinheit 1871 die neue deutsche Hauptstadt schnell expandierte, als neue Gründerzeitbauten und gleichfalls emporgewachsene Bäume die Sicht auf das einzige offizielle Nationaldenkmal Berlins immer mehr verstellten, wurde das Monument auf kaiserliches Geheiß 1878/79 erhöht. Zwölf hydraulische Apparaturen hievten das fast 2000 Tonnen schwere gusseiserne Werk in die Luft, drehten es um 21 Grad mehr zur neuen Stadtmitte hin und setzten es auf einen enormen Sockel, der zugleich ein Gewölbe als Lagerstätte barg. Unter Wilhelm II. wurde dann ein Jahrzehnt später am Kreuzberg der Viktoriapark angelegt, mit dem 24 Meter hohen, bis heute bei Kindern und Hunden besonders beliebten Wasserfall, der einem Katarakt aus dem Riesengebirge nachgestaltet ist.

Der größte Schatz im jetzigen „Sockeldepot“ ist nun der von Johann Gottfried Schadow als Fassadenschmuck für die 1798-1800 erbaute Berliner Münze am Werderschen Markt entworfene „Münzfries“. Die Reliefplatten aus Sandstein und teilweise angefügtem Zinkguss erzählen in antikischen Figurationen im Grunde den Kern der modernen Menschheits- und Wirtschaftsgeschichte: von Prometheus, der lehrt, das den Göttern entwendete Feuer zum Schmelzen von Metallen zu nutzen, bis hin zur Erfindung des Geldes, der Technik, Münzen zu prägen und mit ihrem Wert neue Werte und Werke in Ackerbau, Handel, Handwerk oder den Künsten zu bewirken. Gut 37 laufende Meter hat Schadow mit seinem dramatischen Bildprogramm selbst geschaffen, für eine Erweiterung 70 Jahre später kamen dann noch Reliefs für 13 Meter Wandschmuck von den Bildhauern Hugo Hagen und Rudolf Siemering hinzu.

Prosit bei Tag und Nacht! Gleich zu Beginn des Rundgangs wartet der Kreuzberger Weingeist.
Prosit bei Tag und Nacht! Gleich zu Beginn des Rundgangs wartet der Kreuzberger Weingeist.
© Mike Wolff

Das alles liegt hier am Boden, gegen die Backsteinmauern gelehnt, so nah wie nie sonst zu betrachten. Das Originalwerk war nach Abriss der alten Münze am Werderschen Markt mehrfach ab- und an neuen Fassaden wieder aufgenommen, ab Mitte der 1930er Jahre dann jedoch durch Kopien ersetzt worden. Eine Kopie des Schadow-Frieses, ohne die Reliefs von Hagen/Siemering, ist jetzt noch in Berlin-Mitte über dem Eingang des als Reichsmünze 1937/38 errichteten Anbaus des Palais Schwerin am Mühlendamm zu erkennen, gegenüber dem Ephraim-Palais. Und fünf Tafeln unter dem Motto „Prägen und Wägen“ wurden als Kopien auch an der Berufsfachschule Moabit nahe der Haftanstalt angebracht. Die Originale sind indes durch Krieg und Nachkrieg gerettet worden, waren zwischenzeitlich, man glaubt es kaum, in die Betonfassade eines Seniorenheims am Spandauer Damm in Charlottenburg eingebaut. Nun aber schlummern sie seit drei Jahrzehnten als Schatz im Kreuzberg, fast wie im Kyffhäuser.

Neben dem Münzfries sind auch Bruchteile der Sicherungskopien von Schadows Quadriga zu entdecken. Auf dem Brandenburger Tor steht ja nur noch eine Rekonstruktion der im Krieg weitgehend zerstörten Skulpturengruppe. Der einzige erhaltene originale Pferdekopf befindet sich im Märkischen Museum, doch die wie aus einer Ruine geborgenen, teilweise bemalten Gipsfragmente der Pferde im Staub des Kreuzberggewölbes, bereit auch zum Anfassen, sie tragen selber die Patina der Geschichte. Das Schatzhaus ist ein Steinhaus und so, museologisch gesprochen, Berlins merkwürdigstes Lapidarium.

Wie kommt der Wein in die Flasche? Man pflanzt ihn auf dem Kreuzberg.
Wie kommt der Wein in die Flasche? Man pflanzt ihn auf dem Kreuzberg.
© Mike Wolff

Gipsbleiche Kopien der Genien des Denkmals oder des Fassadenschmucks vom Jagdschloss Tegel, originale Reliefs und Skulpturen aus nicht mehr existenten Berliner Stadtpalais oder in vergitterten Nischen und Seitengewölben die zugemauerten Eingänge der einst vom Denkmal zum Flughafen Tempelhof führenden Tunnelgänge – Bruchstücke einer teils grandiosen, teils gespenstischen Vergangenheit. Tatsächlich ein Berliner Kyffhäuser, offenbar noch unentdeckt als Spielfilmkulisse. Und apropos Kyffhäuser: Der Kreuzberg hat auch seine Sagen, die Frank Körner bisweilen erzählt. Eine handelt vom Brandenburger Kurfürsten Joachim I., der Anfang des 16. Jahrhunderts sehr streng die Raubritter bekämpfte und viele von ihnen aufhängen ließ. Doch als er 1525 vor einer ihm von seinem Hofastrologen verkündeten Sintflut auf den damaligen Tempelhofer Berg geflohen sein soll und sein Volk drunten im Tal im Stich lassen wollte, wurde er legendär unbeliebt.

Schlimmer war allerdings sein realer Judenhass, der ihn zusammen mit der Kirche 1510 den „Berliner Hostienschänderprozess“ wegen angeblicher Entweihungen und ritueller Kindsmorde anzetteln ließ. Worauf die Brandenburger Juden ermordet oder vertrieben wurden und der größte jüdische Friedhof in Spandau verwüstet.

Geheimnis an der Schönhauser, Zauber der Zitadelle

Unter grüner Kuppel. So beherbergt der jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee seine Schätze.
Unter grüner Kuppel. So beherbergt der jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee seine Schätze.
© Mike Wolff

Nur wenige Zeugnisse haben sich von dort erhalten. Knapp 30 dieser mittelalterlichen jüdischen Grabsteine sind heute im sogenannten „Archäologischen Fenster“ gleich hinter dem Eingang und beim Aussichtsturm der Zitadelle Spandau zu sehen. Inzwischen liegt Berlins ältester jüdischer Friedhof als große, gleichfalls wenig bekannte Sehenswürdigkeit am Beginn der Schönhauser Allee. Von 1827 an wurden dort über 20 000 Gräber angelegt; viele Steine stehen längst windschief oder sind gestürzt, es gibt die Ruinen einst prachtvoller Mausoleen, und Efeu und Büsche haben die Gräberfelder in eine sonderbar pittoreske Erinnerungslandschaft verwandelt: voller Symbole für Glanz und Elend, Aufstieg und Verfolgung, Kultur, Barbarei und Rückverwandlung in die Natur. Die Gräber etwa von Max Liebermann, vom Berliner Museumsförderer James Simon oder von Giacomo Meyerbeer, dem vom Konkurrenten Richard Wagner antisemitisch geschmähten Opernkomponisten, finden sich hier. Und dazu ein weiteres Berliner Lapidarium: eine schmucke moderne Ausstellungshalle zur Geschichte des Berliner Judentums und seiner Begräbniskultur, mit gut 60 Gedenksteinen aus verlorenen Gräbern.

Glanz und Verfall. Auch der Maler Max Liebermann liegt hier begraben.
Glanz und Verfall. Auch der Maler Max Liebermann liegt hier begraben.
© Mike Wolff

Das neben dem Kreuzbergdepot bedeutendste Lapidarium ist seit einigen Jahren in der Zitadelle Spandau. Etwas entfernt vom Ort der jüdischen Grabsteine beherbergt ein langgestreckter Seitenbau, das frühere Proviantmagazin, in seinen jetzt geradezu weltstädtisch elegant gestalteten Raumfluchten die gerade eröffnete Schau „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“. Darüber war, mit dem Fokus auf spätere Nazi-Skulpturen, schon einiges auf den „Mehr Berlin“-Seiten der vergangenen Woche zu lesen. Tatsächlich aber kann man die Spandauer Präsentation auch in direkter Korrespondenz mit dem Kreuzberg sehen.

Die vier Gipskopien der Schlachtallegorien von Großgörschen, Leipzig, Paris und Belle-Alliance sind, so strahlend rausgeputzt und neu gestrichen, dem Kreuzberger Depot entliehen. Und Frank Körner hat entdeckt, dass die „schöne Luise“ von Paris in Spandau gleich einen hübschen Finger zurückerhalten hat – er war vor Jahren, vermutlich durch das übermütige Kind eines Besuchers, während Körners Führungen abhandengekommen. Auch die höfischen, militärischen oder etwa bei einer Humboldt-Büste mal bürgerlichen Helden des bildhauerisch opulenten 19. Jahrhunderts ergänzen nun in glänzendem Licht ihre Verwandten aus der Kreuzberger Schattenwelt.

Halle der steinernen Zeitzeugen. In der Zitadelle Spandau gibt es nun eine spektakuläre Sammlung.
Halle der steinernen Zeitzeugen. In der Zitadelle Spandau gibt es nun eine spektakuläre Sammlung.
© Mike Wolff

Im dortigen Schatz- und Geisterhaus wohnt freilich noch ein ganz anderer Geist – der des Kreuzberger Weines. Ihn verwahrt Herr Körner mit seiner ihm meist assistierenden Gattin Marie in einem Metallschrank. Für zehn Euro, weniger als der Selbstkostenpreis des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, gibt er Besuchern schon mal eine Flasche ab vom weißen oder roten „Kreuz-Neroberger“. Als Kommissionsware, zugunsten des Bezirks. Weinbau? Den gab es am früheren Tempelhofer Berg bereits vom 15. bis 18. Jahrhundert. Dann wurden die Winter zu kalt. Klimawandel.

Einen winzigen, am Südhang des Kreuzbergs frisch angelegten Weinhügel erblickt man jetzt von der Terrasse des Denkmals auf dem rückwärtig angrenzenden Areal der ehemaligen Schultheiß-Brauerei, heute einem Quartier mit Eigentumswohnungen und Lofts. Doch der seit 1968 wieder angebaute und jährlich in 700 bis 900 Flaschen abgefüllte wahre Kreuzbergwein wächst am östlichen Rand, an der noch kleinen Methfesselstraße. Dort liegt innerhalb einer Bio-Gärtnerei das bezirkliche Weinfeld, in idealer Südwestlage und nach Norden durch die Brandmauern älterer Häuser geschützt. Es ist übrigens das Grundstück, auf dem eine der beiden sich gegenüberliegenden, im Krieg zerstörten Villen der Familie Zuse standen, in denen der geniale Tüftler Konrad Zuse ab 1936 an seinen ersten Computern baute und vor just 75 Jahren seinen Prototypen „Z3“ entwickelt hatte. Jetzt also wächst Wein über der Frühgeschichte des digitalen Zeitalters.

Alte Bekannte. Die Originale der vier Genien links finden sich auf dem Kreuzberg.
Alte Bekannte. Die Originale der vier Genien links finden sich auf dem Kreuzberg.
© Mike Wolff

Gekeltert und ausgebaut werden die Kreuzberger Roten (vor allem der Spätburgunder) freilich im rheinhessischen Ingelheim, der Partnerstadt von Kreuzberg, aus der auch die Rebstöcke stammen. Die Weißen, Riesling und Kerner, erfahren ihre Weinwerdung nebenan in Wiesbaden – dann geht alles zurück nach Kreuzberg. Mal herber, mal vollmundiger, der Jahrgang 2012 soll besonders rund gewesen sein. Klimawandel. Oft aber bleibt’s beim Geist, der Körper ruht in den als Andenken ungeöffnet bewahrten Pullen. Das Geheimnis liegt also einmal mehr ganz drinnen. Verborgen.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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