Berlin: Der Mythos Kreuzberg lebt jenseits von Krawall
Bezirke vergehen, Legenden bleiben: zusammengefügt mit dem so unterschiedlichen Friedrichshain, doch selbst schon mit den zwei Gesichtern 36 und 61 Eine Hommage an einen Berliner Stadtteil – von einem gebürtigen Kreuzberger
Der Mythos SO36 schert sich nicht um behördlich verordnete Reformen. Schließlich ist der verwaltungsmäßige Abschied von SO36 noch viel länger her als die Bezirksreform von 2001; die Post gab den historischen Zustellbezirk „Südost“ auf weit vor Erfindung der Postleitzahl. Unvergessen bleibt SO36 trotzdem, eine pfleglich von Generationen von Zugezogenen polierte Ikone.
Zweigeteilt war der Kreuzberg immer. Im tiefenspychologischen Untergrund des Stadtteils eingegraben ist die unsichtbare Demarkationslinie, die irgendwo kurz hinter der Urbanstraße begann - nie genau ausgelotet, aber immer fühlbar für jene, die dort aufwuchsen. Da galt es vorsichtig zu sein, wenn es über die Linie etwa zum Prinzenbad ging, wo andere Gruppen das Sagen hatten, jene vom Kottbusser Tor, die immer schon etwas ruppiger waren.
Die taten sich umgekehrt dafür schwer, zum Seifenkistenrennen zum Mehringdamm zu gehen, wo die selbst gebastelten Boliden vom Platz der Luftbrücke hügelabwärts schossen in den Bergmannkiez. Über jene, die dort am Kotti oder ganz hinten am Schlesischen Tor lebten, über die proletarischen Massen, da hatten schon in Kaisers Zeiten die besseren Damen vom Belle-Alliance-Platz die Nase gerümpft.
Das blieb, mochte der Kaiser auch abgetreten und die siegreiche preußisch-französische Allianz namensmäßig vom marxistischen Publizisten Mehring verdrängt worden sein. Die unsichtbare Grenze prägt bis heute auf verblüffend subtile Weise die Zuzügler. In den Zeiten der Hausbesetzer war SO36 auch eine politische Standortangabe, deren Wohnortinhaber sich radikaler fühlten als jene aus SW61, „Südwest 61“, rund um den Kiez an der Bergmannstraße bis hin zum Südstern. Im harten SO36 galten jene Besetzer vom Chamissoplatz als bürgerliche Softies, die mehr an Tanzperformances interessiert waren als an Tänzchen mit dem Wasserwerfer. Lang her. Immer noch spürbar im Selbstverständnis. In der hippen Bergmannstraße, wo die alten Läden verschwunden, die Restaurants schicker und die Wohnungen teuer geworden sind, hält man sich für einen Kulturbürger. Dabei erinnert in der Bergmannstraße nichts mehr an das repräsentative Kino „Rivoli“, das Hinterhof-Filmtheater „Allotria“ oder die nahen Kinos „Prisma“ und „Belle Alliance“. Doch ist das Lebensgefühl dort nicht immer noch eine Spur leichter und beschwingter als in der Oranienstraße weit im Osten? Wo sonst in diesem Bezirk könnte es jährlich ein Jazzfest geben als hier in „Südwest 61“, das im Sommer dem Kiez etwas von frankophoner Leichtigkeit verleiht?
Wo sonst als am Heinrichplatz scheint andererseits die Revolte auch heute noch immer nur einen Steinwurf entfernt zu sein? Dort scheint SO36 fast so unangepasst und wild, wie von Rainer Fetting und Martin Kippenberger gemalt, nachdem sie im Morgengrauen aus dem abgeranzten Musikschuppen „SO36“ stolperten, die Ohren klingelnd, die Sinne hochgepeitscht. Was für ein Witz, dass das „SO36“ vor einem Jahr zum „Club des Jahres in Deutschland“ gewählt wurde, jenes Deutschland, dem hier in der Oranienstraße so häufig aus linksradikalen Kehlen ein „verrecke“ hinterhergerufen wurde. Jetzt war der Club froh, dass mit dem Preisgeld die dringend benötigte Schallschutzwand gebaut und damit das Mietverhältnis fortgesetzt werden konnte. Mietverträge, da hätte der Besetzerrat damals nur gelacht. Nun ja, auch die Zeiten, wo aus Protest gegen die Gentrifizierung in der Oranienstraße ein Eimer voll Fäkalien in ein Restaurant geschüttet wurden, weil es Hauptgerichte für 15 Mark im Angebot hatte, sind heute nicht mehr recht vorstellbar.
Hat sich jemand der neuen Kreuzberger mit den immer teurer werdenden Eigentumswohnungen, die es lieben, von SO36 aus zu ihren Jobs im Regierungsviertel zu radeln, mal bei Werner Orlowsky bedankt? Unbekannt? Dem schlichten Kaufmann, der einst eine Drogerie nahe dem Heinrichplatz hatte, und seiner Empörung haben sie zu verdanken, dass es den Kiez überhaupt noch so gibt. Er organisierte den Widerstand, nachdem dort die Senatsplaner parallel zur Mauer auf der Trasse der Oranienstraße eine Stadtautobahn bauen wollten und der zum Abriss freigegebene Kiez immer mehr verkam. Die Wiege der Wutbürger steht nicht am Stuttgarter Hauptbahnhof, sondern am Kottbusser Tor.
So viel kaputt zu machen, wie es die Stadtplaner vorhatten, hätten selbst die Autonomen am 1. Mai nie geschafft. Die Autobahn ist Geschichte, leider nicht das Neue Kreuzberger Zentrum. Bei dessen Bau wurden den Kreuzbergern einst hängende Gärten versprochen und brutalster Beton geliefert. Nur die nackte Brandwand an der Rückseite des NKZ erinnert noch daran, dass dahinter die Autobahnpiste entlangführen sollte. Tempi passati, Beton bleibt.
Die Uhren aber gingen im hinteren Kreuzberg schon immer anders. Das wusste bereits Sven Regeners „Herr Lehmann“, der Held dieses merkwürdigen Kreuzberger Zwischenuniversums, in dem alle immer jung und verantwortungslos bleiben konnten. „Schon das angrenzende Kreuzberg 61 ist befremdendes Ausland, Charlottenburg ein anderer Kontinent und die DDR ein fremder Planet.“ Bis man akzeptierte, dass die Mauer weg war und SO36 nicht mehr die Sackgasse der Weltgeschichte war, sondern Durchzug herrschte, hat es viele Jahre gedauert. Akzeptiert haben es immer noch nicht alle. Vielleicht wird deswegen jedes Jahr auf der Oberbaumbrücke so erbittert mit Tomaten und angefaultem Gemüse gegen die Eindringlinge aus dem Osten gestritten. Das Herz, nein, nicht der Finsternis, aber des wahren Ostens, schlägt eben immer noch in SO36. Und nirgendwo sonst. Gerd Nowakowski
Gerd Nowakowski
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