Terminlücken lassen sich nicht schließen: Der Impfstopp von Astrazeneca hat massive Auswirkungen in Berlin
Astrazeneca wird in Berlin nicht mehr verwendet. Wenn das Präparat wieder eingesetzt wird, dann ohne Priorisierung. Das fordern Ärzte, Grüne und FDP.
Ruhig ist es am Dienstag vor dem Impfzentrum, die Zufahrt zu Tegels alten Terminals abgesperrt. Noch am Vortag herrschte im Ex-Flughafen reger Betrieb, bis zu 1000 Spritzen wurden wohl am Montag gesetzt, bevor 15.30 Uhr die Nachricht der Bundesregierung ankam: Das Impfen mit Astrazeneca wird gestoppt. Da in Tegel nur dieses Vakzin verimpft wird, schloss das Zentrum. Selbst diejenigen, die mit hochgekrempelten Ärmeln in den Impfkabinen saßen, mussten das Gebäude verlassen.
Dienstagvormittag wirken die Wachleute gelangweilt, einige Mitarbeiter des Impfzentrums sind vor Ort, andere bummeln ihre Überstunden ab. Soldaten fahren in Kleinbussen vorbei. In der Nähe befindet sich die Julius-Leber-Kaserne, die Bundeswehr hilft überall in Berlin beim Impfen: in den anderen Zentren, den Pflegeheimen, den mobilen Teams.
Die Nachricht, dass die Impfzentren zu sind, hat offenbar nicht jeden erreicht. Ein Paar in Winterjacken, circa 60 Jahre alt, rückt die Masken zurecht und läuft zur Bushaltestelle: „Ja, das wird dann wohl nichts“, sagt der Mann. „Aber gut ist das mit dem Impfstopp. Man soll lieber auf Nummer sicher gehen.“
Seine Frau hält einen Infobogen des Paul-Ehrlich-Instituts über das Thrombose-Risiko durch die Astrazeneca-Impfung in der Hand, den sie gerade von den Wachleuten bekommen hat. Sie seien weder über den Impfstopp benachrichtigt worden, noch habe man ihnen sagen können, wann sie einen Ersatztermin bekommen, sagte die Frau. Dabei seien sie extra aus dem Märkischen Viertel gekommen.
An der Bushaltestelle stehen zwei Raucher, denen es wohl ähnlich geht. Einer von ihnen zieht die Maske vom Gesicht, zückt sein Handy, nimmt ein Video auf. „Hat man alles gestoppt hier“, sagt er und filmt das Areal. „Alles zu.“
Ein Wachmann erzählt, dass sonst schätzungsweise 2000 Impflinge täglich nach Tegel gekommen seien, heute sind es nur einige Verirrte. Am Impfzentrum in Tempelhof sähe es ähnlich aus, habe er von einem Kollegen gehört. Tatsächlich herrscht auch dort Ruhe. Die Helfer sortieren Papiere, regeln Unerledigtes, doch auch in Tempelhof werden nun Überstunden abgebaut.
Den Impfstopp für den britisch-schwedischen Pharmahersteller hat Senatschef Michael Müller (SPD) am Dienstag als „bitteren Rückschlag“ bezeichnet. „Da gibt es nichts rumzureden“, sagte Müller, der derzeit auch Chef der Ministerpräsidentenkonferenz ist. Und: „Ein bisschen darf man sich als Laie auch wundern über die Prüfungen und Testverfahren der entsprechenden Wissenschaftsinstitutionen.“ Damit ist der Regierende Bürgermeister wohl nicht allein. Astrazeneca, so sagen es auch Ärzte, Pharmatechniker und Fachpolitiker, genießt unter ihnen weiter großes Vertrauen. Doch Laien, die sich bislang schon seltener mit Astrazeneca impfen lassen wollten, dürfte die erneute Prüfung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema) eher in ihrer Skepsis bestätigen. Selbst dann, wenn die EU-Experten das Mittel, wohl als einsatzfähig beurteilen werden, wie es von der Ema am Dienstag vorab hieß.
Senatschef Müller sagte, der Impfstopp habe schon jetzt massive Auswirkungen: „Berlin hat Stand heute 437 000 Impfungen gesetzt, davon waren 57 000 von Astrazeneca bei den Erstimpfungen“, sagte der Landeschef. „Und wenn ich die jetzt, heute, morgen, übermorgen nicht zur Verfügung habe, entsteht hier eine Riesenlücke.“ Sie lasse sich durch andere Vakzine nicht schließen, weil davon zu wenige Dosen geliefert wurden. Man könne von einem Politiker nun aber auch nicht erwarten, sagte Müller, dass er „über alle wissenschaftlichen Meinungen hinweg“ sehe und verkünde: „Wir machen lustig weiter.“ Er rechne ohnehin nicht damit, dass das Vertrauen in diesen Impfstoff gänzlich verloren ist. „Wenn wir das Angebot wieder machen können, werden viele darauf zurückgreifen wollen. Weil man dann deutlich schneller geimpft wird als mit den anderen Impfstoffen“, sagte Müller. Offenbar will der Senatschef für den erwarteten Fall, dass Astrazeneca schnell wieder im Einsatz ist, gleich an die ungeliebte Impfreihenfolge heran: Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) möge Pläne für ein „gutes und unkompliziertes Angebot“ jenseits der Priorisierung machen, sagte der Regierungschef.
Astrazeneca freizugeben, also umgehend auch Jüngeren anzubieten, das hatten namhafte Ärzte schon vor Tagen gefordert. „Die bisherige Priorisierung entspricht dem Gerechtigkeitssinn, ist aber unpraktisch“, sagte Rüdiger Heicappell, Berliner Impfarzt und Direktor der Asklepios-Klinik im märkischen Schwedt: „Es ist gut, wenn Astrazeneca nun überprüft wird – ich gehe aber davon aus, dass der Impfstoff danach weiter verwendet wird.“
Auch die Berliner Fraktionschefin der Grünen, Antje Kapek, drängt auf eine schnelle Freigabe. Zwar sei es „richtig, Nebenwirkungen von Impfstoffen eingehend zu untersuchen“, sagte Kapek am Dienstag. Die Impfungen mit Astrazeneca auszusetzen hält sie jedoch „angesichts des überschaubaren Risikos und der steigenden Corona-Zahlen für unverhältnismäßig“. Zumal selbst die EU-Arzneimittelagentur der offenbar strengeren Einschätzung in Deutschland widerspreche. Kapek sagte, sie fordere Bund und Länder auf, nun auf das „Prinzip Freiwilligkeit“ zu setzen – und damit Menschen selbst entscheiden zu lassen, ob sie sich freiwillig und eigenverantwortlich mit Astrazeneca impfen lassen möchten.
Ähnlich hatte sich am Dienstag der Berliner FDP-Landeschef Christoph Meyer geäußert. Meyer sagte dem Tagesspiegel: „Nicht nur um den Ruf des Impfstoffes zu retten, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, Astrazeneca für alle freizugeben, die sich sofort impfen lassen wollen.“ Die Menschen sollten selbst entscheiden, ob sie „das angebliche Risiko, das mit dem Impfstoff einhergeht“, tragen können oder nicht, erklärte Meyer und sagte: „Wenn ich heute ein Impfangebot mit Astrazeneca bekäme, ich würde es sofort annehmen.“ Zuvor hatte er Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) attackiert. Dieser habe in der Krise „nicht dazugelernt“, verstecke sich hinter Entscheidungen, „die andere für ihn getroffen haben, die er aber selbst treffen müsste“. Meyer warf Spahn vor, durch das Aussetzen der Impfungen mit Astrazeneca billigend in Kauf zu nehmen, „dass jeden Tag Menschen an Corona sterben oder schwer am Virus erkranken“.
Der Senat hatte für diese Woche geplant, mehr als 23 000 Berliner mit Behinderung zu impfen. Auch 18 000 Betreuer sollten die erste Dosis Astrazeneca erhalten. Dazu Tausende in den Krankenhäusern. Das fällt nun erst mal aus.