Antisemitismus in Berlin: Der Hass gegen Juden lässt nicht nach
Judenfeindliche Übergriffe sind in Berlin weiterhin an der Tagesordnung. Das zeigen neue Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin.
Berlin im April 2018: Ein junger Mann attackiert einen 21-jährigen Israeli. „Yahudi! Yahudi!“, schreit er – arabisch für „Jude! Jude!“. Mit einem Gürtel schlägt er auf den Israeli ein, immer wieder. Erst als sein Begleiter einschreitet, lässt er von dem Opfer ab. Es ist ein schockierendes Video, das sich von Berlin aus in die ganze Welt verbreitet hat.
Die Kippa hatte das Opfer der Attacke nur als Experiment getragen. Ein Freund hatte ihn gewarnt, man sei in Deutschland nicht sicher, wenn man eine Kippa trage. Das habe er nicht geglaubt, erklärte der arabische Israeli damals.
Der Überfall löste Entsetzen aus – und eine Debatte darüber, wie man mit Antisemitismus umgeht. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) meldete sich zu Wort: Es sei ein „schrecklicher Vorfall“, sagte sie. „Der Kampf gegen antisemitische Ausschreitungen muss gewonnen werden.“
Nach einem Triumph sieht es derzeit allerdings nicht aus. Im Gegenteil: Neue Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias) für das erste Halbjahr 2018 zeigen, dass der Vorfall in diesem Frühling alles andere als ein Einzelfall war. Zwischen Januar und Juni wurden demnach insgesamt 527 Vorfälle in Berlin erfasst.
Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (514 Vorfälle) verblieb die Gesamtzahl antisemitischer Vorfälle in Berlin damit konstant auf hohem Niveau. Unterteilt hat die Informationsstelle die Vorfälle in vier Kategorien: in körperliche Angriffe und gezielte Sachbeschädigung einerseits, andererseits in verletzendes Verhalten – darunter fallen etwa antisemitische Kommentare im Internet – und konkret adressierte Bedrohungen.
Zahl der gemeldet Angriffe hat sich im Vergleich zu 2017 verdoppelt
Für letzte Kategorie nennt Rias das Beispiel eines Juden aus Spandau, der im Februar in seinem Briefkasten einen handschriftlichen Zettel mit der Aufschrift „Christen und Juden vernichten – von Boden – Deine Tage gezählt“ fand. Bei den körperlichen Attacken und gezielten Bedrohungen gab es in der ersten Jahreshälfte sogar einen starken Zuwachs an Vorfällen.
Laut Rias wurden jeweils 18 antisemitische Angriffe und Bedrohungen bekannt, wobei sich die Zahl der gemeldeten Angriffe im Vergleich zum ersten Halbjahr 2017 verdoppelt hat und die der Bedrohungen um 50 Prozent gestiegen ist. Als antisemitische Angriffe erfasste Rias Berlin zum Beispiel sechs (zum Teil versuchte) Körperverletzungen gegen Personen, die aufgrund einer Kippa, eines Davidstern-Tattoos oder des Hörens von israelischer Musik als Israelis oder als Juden erkennbar waren.
Die Häufung der Angriffe und Bedrohungen nehmen wir mit Beunruhigung wahr“, sagte Rias-Projektleiter Benjamin Steinitz dem Tagesspiegel. Den Anstieg der Zahlen erklärte er auch mit dem größeren Bekanntheitsgrad seiner Einrichtung: „Mehr Betroffene als im vergangenen Jahr wandten sich an uns, weil sie besorgniserregende Erfahrungen machten und uns in diesen schwierigen Situationen das Vertrauen entgegenbrachten.“
Insgesamt waren 158 Einzelpersonen von antisemitischen Vorfällen betroffen, 68 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Und die Täter? Sie stammen aus allen Milieus. So konnte knapp über die Hälfte der gemeldeten körperlichen Angriffe keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden, drei waren islamistisch und fünf linksextremistisch motiviert. Unter den Sachbeschädigungen und den Bedrohungen wiederum fanden sich Täter mit rechtsextremen Einstellungen.
Lediglich 133 antisemitische Fälle in der offiziellen Polizei-Statistik
Die Rias-Statistik hat dabei Vor- und Nachteile. Einerseits werden durch die Arbeit der Informationsstelle erstmals auch antisemitische Vorfälle publik, die aufgrund ihrer juristischen Geringfügigkeit sonst nicht in der Polizeistatistik aufgetaucht wären. Ein Polizeisprecher berichtete am Mittwoch von lediglich 133 antisemitischen Fällen in der offiziellen Statistik fürs erste Halbjahr 2018.
Andererseits muss sich die Informationsstelle auf die Aussagen ihrer Zeugen verlassen – was bisweilen zu Widersprüchen führen kann. So berichtete eine Familie im April, in einem Restaurant am Gendarmenmarkt nicht bedient worden zu sein – was die Gaststättenleitung auf Tagesspiegel-Anfrage bestritt.
Trotz solcher Einzelfälle ist die Wertschätzung für die Arbeit der Informationsstelle groß: „Das Monitoring von Rias – insbesondere die niedrigschwellige Erfassung antisemitischer Vorfälle – ist die Voraussetzung zur Bekämpfung des Judenhasses“, sagte Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Und auch der Senat sieht in der Informationsstelle ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Antisemitismus. „Ich bin Rias dankbar, dass sie Licht ins Dunkelfeld antisemitischer Straftaten bringen und Betroffene beraten“, sagte Justizsenator Dirk Behrendt.
Der Grünen-Politiker plant seinerseits, mit einer Studie antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen in Berlin zu untersuchen. Im Dezember sollen per Telefon 2500 Berliner von Forschern der Universität Leipzig befragt werden. „So bekommen wir nicht nur einen wissenschaftlich fundierten Blick auf die Einstellungen in unserer Gesellschaft, sondern können auch unsere Projekte gegen Rassismus und Antisemitismus noch passgenauer zuschneiden“, sagte Behrendt.