Berlin: Der gute Menschenhandel
34 000 Menschen wurden aus DDR-Haft freigekauft Eine Schau in Marienfelde zeigt ihre Schicksale.
Es waren keine schönen, aber gute Geschäfte: 95 847 deutsche Mark bezahlte die Bundesrepublik viele Jahre lang für jeden politischen Häftling der DDR, den das Ost-Berliner Regime gehen ließ. Bezahlt wurde mit Waren. Es war Menschenhandel im Wortsinn – und es waren gute Geschäfte in dem Sinn, dass sie Menschen das Leben in Freiheit möglich machten und Familien wieder zusammenbrachten, die durch Konflikte mit dem Staat DDR getrennt und zerrissen worden waren. Aus der DDR und ihren Zuchthäusern freigekauft wurden von 1963 bis 1989 fast 34 000 Frauen und Männer. Die Ausstellung „Freigekauft – Wege aus der DDR-Haft“ zeigt jetzt an einer Reihe von Beispielen, wie der Handel mit Häftlingen und manchmal auch deren Kindern vor sich ging.
Harry Seidel zum Beispiel. Der in der DDR erfolgreiche Rennradfahrer erzählt in der Ausstellung in einem Filminterview, wie der Freikauf ablief. Seidel war der DDR gerade rechtzeitig entkommen, bevor die Mauer errichtet und Flucht nur unter lebensgefährlichen Umständen möglich war. Von West-Berlin aus arbeitete Seidel – unentgeltlich – als Fluchthelfer. 1962 wurde er am Ausgang eines Tunnels in Ost-Berlin festgenommen – Stasi- Leute hatten den Fluchthelfern eine Falle gestellt. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und im Zuchthaus von Brandenburg eingesperrt. Von den Zuständen dort wusste man im Westen (wo es allerdings auch noch Zuchthäuser gab), nicht viel. Eines der originellsten Ausstellungsstücke zeigt, wie Informationen damals in den Westen transportiert wurden. Eine Zeichnung auf Papier, gerade so groß wie die Oberfläche einer Zigarettenpackung, bildet perspektivisch die Anordnung der Zellen des Brandenburger Gefängnisses ab – einschließlich der „Tigerkäfig“ genannten Verschläge, in denen Gefangene dauernd unter Aufsicht waren.
Harry Seidel, dessen Fall ziemliches Aufsehen erregte, hatte, wie er in dem Filminterview erzählt, auf Freikauf gehofft. Doch er musste bis 1964 warten – Hunderte hatte er aus dem Gefängnis ziehen sehen. Das Regime habe sich offenbar die Blamage ersparen wollen, einen Mann gleich wieder gehen zu lassen, der in einem wahren Schauprozess verurteilt worden war.
Erst mit den Jahren wurde im Osten wie im Westen aus dem von Gerüchten umwehten Freikauf so etwas wie ein fast kalkulierbarer Weg. Zwei Anwälte waren Ansprechpartner für alle, die den Weg ins Auge fassen wollten, vor allem aber für die Politiker auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. In West-Berlin war Rechtsanwalt Jürgen Stange der Mann, der Informationen über verfolgte und inhaftierte DDR-Bürger entgegennahm und an eine Spezialabteilung des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen weitergab. Die dort erstellten Listen wurden in der DDR von der Stasi geprüft: Oberst Heinz Volpert, zuständig für den Häftlingsfreikauf als „Offizier für Sonderaufgaben“, genehmigte die Entlassungen aus der Haft und der DDR-Staatsbürgerschaft – oder er genehmigte nicht.
Daneben gab es auch andere Methoden, die Leute unter Druck zu setzen, die es mit dem DDR-Regime aufgenommen hatten. Die vierköpfige Familie Kolbe hatte 1973 versucht, die DDR über die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich zu verlassen. Maria Kolbe deutet an, dass sie und ihr Mann es in der DDR einfach nicht mehr ausgehalten hätten. Die Eltern wurden mit den beiden Söhnen im Grenzgebiet entdeckt und festgenommen. Die Eltern kamen in Haft, die beiden Jungen zunächst kurz in ein Heim, dann in die Pflege eines Onkels. In der Haft erfuhren die Eltern, dass die Behörden überlegten, die beiden Söhne zur Adoption freizugeben. Karl Kolbe, ein würdiger alter Mann mit grauen Haaren, erzählt im Filminterview, das habe ihn „getroffen wie ein Keulenschlag“. Fast zwei Jahre dauerte es, bis sich Eltern und Söhne in der Bundesrepublik wiedersahen. Der ältere Junge erinnert sich im Filminterview an seinen letzten Abend in Dresden, an dem er sich in einer langen Runde auf dem Fahrrad von allen Freunden verabschiedet. In der DDR habe er eine „gute Kindheit“ gehabt, sagt er. Der Westen – das waren Lateinunterricht an der Schule und ein verdruckster Umgang mit dem Thema „Freikauf“. Allen Freigekauften gab man in Westdeutschland den Hinweis mit auf den Weg in die Freiheit, möglichst wenig darüber zu reden. Vater Kolbe erinnert aus dieser Zeit, dass die Eltern versucht hätten, neue Gemeinsamkeiten mit den Jungen zu schaffen. Da ahnt man, was diese Art von Trennung mit Eltern und Kinder gemacht hat.
Bemerkungen wie die von Sohn und Vater Kolbe gehören zu den eindrucksvollsten Ausstellungsstücken. Unspektakulär sollte der Freikauf laufen. Mit Reisebussen, erst zwei, dann drei, wurden die Häftlinge alle paar Wochen aus der DDR über den Grenzübergang Wartha/Herleshausen in das „Bundesnotaufnahmelager Gießen“ gebracht. Die Busse hatten Wechselkennzeichen für den Ost- und den Westgebrauch. An der Grenze stiegen die Stasi-Leute aus, die netten Mitarbeiter der hessischen Landesregierung brachten Willkommensgrüße: „Apfelsinen, Bananen, Äpfel, Kekse“, wie sich eine Frau erinnert. Ausgestellt sind auch noch drei Musikkassetten, mit denen Busfahrer Horst Niepel die Ex-Häftlinge in Stimmung brachte: Peter Alexander, Heino – und dann noch eine mit der Aufschrift „Scharf gemischt“. Werner van Bebber
„Freigekauft – Wege aus der DDR-Haft“ ist als Sonderausstellung bis zum 31. März 2013 in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde zu sehen. Marienfelder Allee 66-80, geöffnet dienstags bis sonntags, 10 bis 18 Uhr.
Werner van Bebber
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