Wildes Berlin: "Der Großstadtdschungel ist so undurchdringlich wie der Amazonas"
Die Berliner Filmemacher Roland Gockel und Rosie Koch haben mehr als ein Jahr lang wilde Tiere in Berlin bei ihrem Überlebenskampf im Großstadtdschungel beobachtet. Die zweiteilige Dokumentation ist jetzt beim RBB zu sehen.
So viel wie für diesen Film hat Roland Gockel noch nie reden müssen. Der mehrfach preisgekrönte Kameramann hat schon auf der ganzen Welt Naturfilme gedreht. Dabei hat er sogar einmal eine neue große Landtierart mitentdeckt und als erster gefilmt: das Riesenpekari in Südamerika. Doch vom Herbst 2011 bis Anfang 2013 drehte Roland Gockel gemeinsam mit seiner Mit-Autorin, der Biologin und Tierfilmautorin Rosie Koch, in Berlin, direkt vor der Haustür. „Wildes Berlin“ heißt das Projekt, aus dem nun eine zweiteilige Dokumentation geworden ist.
„Wenn man mit der Kamera auf der Straße steht, ist der Berliner Großstadtdschungel so undurchdringlich wie der Amazonas“, sagt Roland Gockel. Bei der Arbeit stellte er dann fest, dass viele Vorstellungen, die er von der tierischen Berliner Parallelwelt hatte, gar nicht zutreffen. Zum Bespiel die Idee, sich einfach neben einen Mülleimer zu stellen und zu warten, um mit dem Drehen zu beginnen. „Die Tiere finden in Berlin einen reich gedeckten Tisch – sie verschmähen das Fastfood aus den Mülleimern nicht, aber sie sind nicht darauf angewiesen“, hat Gockel festgestellt. Die Berliner Füchse beispielsweise jagen Kaninchen, Ratten oder fressen Regenwürmer und Obst, „weil sie Allesfresser sind“. Gockel sagt: „Es gibt viel Wildwuchs in Berlin.“ Damit meint er vor allem die Brachflächen, auf denen ein höherer Artenreichtum gedeiht als oft im Umland. Weshalb der Honig der Berliner Bienen auch besonders hochwertig ist, weil die Insekten in der Großstadt so viele verschiedene Blüten finden können, während sie in der Agrarwüste Brandenburgs oft hungrig bleiben.
Die Filmemacher waren auf Tippgeber aus Berlin angewiesen
Um ihre Hauptdarsteller zu finden, Tiere, die sich mit der Großstadt kreativ arrangiert haben, waren Gockel und Koch jedoch auf die Hilfe vieler Berliner Tippgeber angewiesen. Dabei faszinierte sie vor allem, dass „viele Tiere ihren Berliner finden“. Ein Beispiel dafür ist die „Frente“, eine Ente, die schon seit acht Jahren auf dem Balkon eines Anwalts im sechsten Stock in Mitte brütet. Als der Mann die Ente das erste Mal sah, wollte er eigentlich nur eine Zigarette auf dem Balkon rauchen. Er sei ziemlich erschrocken, erzählte er Gockel. Inzwischen ist aus der Ente eine Familienfreundin geworden. Sind die Küken geschlüpft, wird das Nabu-Taxi gerufen, um die Enten zu einem Teich im Tiergarten zu bringen. Der Naturschutzbund (Nabu) kümmert sich um viele der prominenten und weniger prominenten Berliner Tiere, wenn ihre Kreativität sie Mal nicht weiter führt und ein mitfühlender Berliner die Naturschützer um Hilfe bittet. Aber auch in der Stadtverwaltung gibt es Fachleute, die die Berliner Fauna im Blick behalten. Beispielsweise die berühmten Wildschweine, die inzwischen tatsächlich höchstens nachts noch manchmal am Stadtrand gesichtet werden, aber kaum noch in die Stadt kommen. „Das Wildschweinmanagement hat das inzwischen ziemlich gut im Griff“, sagt Gockel. Im Film gibt es dennoch ein „Quotenschwein“, weil es im „Wilden Berlin“ einfach nicht fehlen darf.
Dass Schwäne und Eichhörnchen und unzählige Singvogelarten Berlin bevölkern, ist schon lange bekannt. Dass aber auch Haubentaucher erkannt haben, dass ein Nest direkt am Bootssteg ihre Eier und Küken vor Füchsen schützt, die zwar die Stadt längst erobert haben, die Menschen aber doch meistens eher meiden, ist schon etwas exotischer. Großartig ist aber auch, wie selbstverständlich die Berliner Tierwelt die Berliner Menschenwelt akzeptiert hat. Eichhörnchen, die ihre Jungen in Vogelhäuschen im vierten Stock eines Hauses in Schöneberg aufziehen, sind solche Überlebenskünstler, oder eine Amselfamilie, die ihr Nest in einem Fahrradkorb an einem hochfrequentierten Fahrradstand in Prenzlauer Berg gebaut hat. Im Tiergarten haben die Waschbären ihre Reviere klar aufgeteilt, wenn sie nachts auf Futtersuche gehen.
Ein Dachs im Hinterhof
Besonders spektakulär ist die Geschichte von einem echten Frechdachs. Ein Dachs war in einem Charlottenburger Hinterhof gefangen. Die Hausbewohner haben den Tierschutz der Stadt benachrichtigt. Darüber haben auch Rosie Koch und Roland Gockel von dem Dachs erfahren – und sensationelle Aufnahmen von ihm gemacht, wie er beispielsweise in seiner Verzweiflung ins Haus mehrere Stockwerke hochgelaufen ist, und wieder runter, und wie er schließlich eine Schlafhöhle für den Tag gefunden hat, weil in einer Fassade ein Hohlraum war, der ihn schützte. Nach zehn Tagen am Stuttgarter Platz fand er schließlich einen Ausgang ins Berliner Nachtleben.
Die exotischsten Berliner Tiere dagegen leben auf einer Bahnbrache im Süden der Stadt: Gottesanbeterinnen, das nördlichste Vorkommen, der Raubinsekten. Roland Gockel kann sich über das Wilde Berlin schnell in Begeisterung reden, und auch darüber, wie viele Berliner ihr Herz für die wilden Tiere in ihrer unmittelbaren Umgebung entdeckt haben. Bei manchen mussten Gockel und Koch das Misstrauen überwinden, das sich aus der Erfahrung speist, dass aus wilden Tieren in der Stadt schnell „Problemtiere“ gemacht werden sollen. Doch die meisten konnten die Filmemacher dann doch davon überzeugen, dass es ihnen einfach um die Geschichten vom Überleben in der Großstadt ging – nur einfach aus der Perspektive der Tiere.
Schülerpraktikant Adrian Bothe wird selbst zum Preisträger
Übrigens ist es Roland Gockel und Rosie Koch im Verlauf ihres Filmprojekts auch gelungen, echte Nachwuchsförderung zu betreiben. Adrian Bothe hatte sich eigentlich in Mecklenburg-Vorpommern bei Filmemachern um ein Schülerpraktikum bemüht. Von dort ist er an Gockel und Koch weiter vermittelt worden. Nach zwei Wochen war Adrian Bothe so begeistert, dass er in den Sommerferien gleich weiter mit arbeitete. Der Berliner Schüler begann seine Umgebung, das Tegeler Fließ zu erkunden, und trug als Nachwuchskameramann auch ein paar Bilder zur Dokumentation "Wildes Berlin" bei. Roland Gockel sagt: "Bei uns hat er seine ersten Schritte gemacht." Aber dann hat er gleich einen eigenen Natur-Kurzfilm gedreht. Und zwar so erfolgreich, dass er im Rahmen des Darßer Naturfilmfestivals mit dem Jugendfilmpreis der Heinz-Sielmann-Stiftung ausgezeichnet worden ist. Der Film "Berlin erlebt den Frühling" ist "ganz auf seinem Mist gewachsen", sagt Roland Gockel und freut sich mit seinem ehemaligen Praktikanten.
Der erste Teil der Dokumentation „Wildes Berlin“ wird am 1. Januar 2014 um 18.40 beim RBB gesendet. Der zweite Teil folgt am 5. Januar 2014 ebenfalls um 18.40 Uhr. Am 3. Februar 2014 gibt es eine zeitlich geraffte Fassung der Dokumentation bei der ARD um 20.15 Uhr zu sehen. Eine erste Fassung von "Wildes Berlin" ist bereits vor einem halben Jahr bei Arte gesendet worden.
Dagmar Dehmer
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