136 Missbrauchsfälle in Kladow: Der Eigenbrötler mit dem Wohnwagen
Unbemerkt soll er jahrelang Kinder missbraucht haben. Nur durch Zufall geriet der 50-Jährige Jugendwart eines Anglervereins unter Verdacht. Eine Spurensuche.
Beschaulich ist es. An der Havel liegt das Gelände des Kladower Anglervereins, kleine Häuschen, Laub unter den Bäumen – und drei Wohnwagen. Um einen dieser Wohnwagen ist ein rot-weißes Flatterband gespannt. An diesem Wohnwagen rückten am 1. November gegen 19 Uhr Zielfahnder des Berliner Landeskriminalamts an und nahmen einen 50 Jahre alten Mann fest.
Horst K. (Name geändert) übernachtete immer wieder in diesem Wohnwagen, wenn es spät geworden war, wenn er noch in der Nacht mit Angeln beschäftigt war. Er hatte ansonsten eine Wohnung in Tegel. Seit der Festnahme sitzt K. in Untersuchungshaft, auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde wegen dringenden Tatverdachts ein Haftbefehl erlassen. K. soll in den vergangenen Jahren vier Jungen im Alter von acht bis elf Jahren in 136 Fällen sexuell missbraucht haben, teils schwer. Die Ermittler glauben, dass es nicht die einzigen Fälle bleiben.
Die Mitglieder des Kladower Anglervereins sind erschüttert. Einer, dessen Familie selbst betroffen ist, steht an diesem Morgen auf der Wiese und erzählt. Ein älterer Herr, der eine Brille mit Metallfassung trägt und einen Pullover, auf dem das Logo des Vereins steht. Sein Enkel ist einer der Jungen, die von K. missbraucht worden sein sollen.
Vor einiger Zeit, sagt er, sei der Junge in der Schule immer schlechter geworden. Die Eltern machten sich Sorgen. Irgendwann vertraute sich der Junge seinem Vater an, der ging dann zur Polizei. Die Ermittler des Kommissariats 132 beim Landeskriminalamt, zuständig für Sexualdelikte, brauchten Zeit, um dem Verdacht nachzugehen: kindgerechte Vernehmungen, Betreuung, stichhaltige Beweise sammeln.
Im Verein fragen sie sich auch, wie es so weit kommen konnte. Der Mann hatte einen guten Ruf. 2014 kam K. zum Verein, ein Führungszeugnis verlangten die Verantwortlichen nicht. Denn K. war als Jugendwart ehrenamtlich tätig, er bekam keine Entschädigung dafür. Und der Vereinsvorsitzende war froh, überhaupt jemanden für die Aufgabe gefunden zu haben, wie er dem Tagesspiegel sagte. Zudem kannte er den Mann, der jetzt in Untersuchungshaft sitzt, eigener Aussage nach seit 15 Jahren. Er habe nie etwas Negatives über ihn gehört.
Mit einigen Kindern blieb er zum Nachtangeln
In inzwischen gelöschten Beiträgen berichtete K. dann, wie er mit Kindern und Jugendlichen angelte, von Land oder vom Boot aus, wie er mit den Kindern die gefangenen Fische ausgenommen und zubereitet hat. Wie er ihnen beibrachte, Haken, Posen und Gewichte anzubringen. Oder wie einige Kinder am Wochenende auf dem Gelände blieben – zum Nachtangeln.
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Niemand im Verein hat es K. zugetraut, es habe keine Signale, keine Warnhinweise gegeben. Von Anglern aus anderen Vereinen, bei denen er zuvor war und auch dort mit Kindern zu tun hatte, sei nur Gutes über ihn erzählt worden. Und auch bei den Kindern und Jugendlichen in Kladow sei K. beliebt gewesen, er habe als Jugendwart gute Arbeit geleistet.
Auch bei einem anderen Verein in Tegel, wo K. vor einigen Jahren war, fiel den Verantwortlichen nichts auf, jedenfalls nichts, was mit Kindesmissbrauch zu tun hat. K. habe Geräte repariert, sei Mechaniker gewesen. Bei dem Tegeler Verein wird K. als Eigenbrötler beschrieben, als einer, der schnell aufgebracht und aufbrausend war, einer, der im Gegensatz zu den anderen Männern im Verein nie eine Frau oder Freundin mitgebracht hat.
Verein: Die Jugendarbeit wird sich „sehr verändern“
Malte Frerichs, Vizepräsident des Berlin-Brandenburger Landesverbands Deutscher Sportfischer, geht davon aus, dass künftig mehr Vereine dazu übergehen werden, sich auch von Jugendwarten und anderen Ehrenamtlichen das Erweiterte Polizeiliche Führungszeugnis zeigen zu lassen.
Aus dem betroffenen Verein selbst heißt es, dass man nach etlichen Gesprächen übereingekommen sei, mit der Jugendarbeit weiterzumachen, „aber sie wird sich sehr verändern“. Der Vorsitzende sagte, er „bete, dass die Kinder so heil wie möglich und ohne bleibende Schäden aus der Sache rauskommen“ und dass den Betroffenen „die Freude an diesem Sport nicht genommen wird“.
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„Die Nachricht hat uns aus heiterem Himmel getroffen“, sagte auch Alexander Seggelke, der Geschäftsführer des Deutschen Angelfischerverbands. Der Verband werde dem betroffenen Verein jetzt „soweit möglich Unterstützung geben“. Horst Kortstock, Vorsitzender des Spandauer Anglervereins Carpe Diem, erklärte: „Das ist das Schlimmste, was einem Verein passieren kann.“
Der Landessportbund Berlin hatte sich zuletzt Ende Oktober im Rahmen seiner „Berlin-Brandenburgischen Regionalkonferenz für den Kinderschutz gegen sexualisierte Gewalt im Sport“ mit den Gefahren beschäftigt. Dort wurde auch bekannt gegeben, dass es ab 2020 ein Siegel „Kinderschutz“ für Vereine und Verbände als „Prädikat für eine Kultur der Aufmerksamkeit“ geben werde.
Es sei wichtig, dass Kinderschutz von den Vereinen als etwas Positives wahrgenommen werde, wünscht sich die LSB-Kinderschutzbeauftragte Meral Molkenthin. Die LSB-Justiziarin Cornelia Köhncke betonte, dass bereits „mit kleinen Maßnahmen ein großer Schutz“ zu erreichen sei.
Polizei und Staatsanwaltschaft bitten um Hinweise
Die Ermittler gehen davon aus, dass die vier Jungen vom Kladower Anglerverein nicht die einzigen Opfer sind. 20 Jahre lang sei K. in verschiedenen Vereinen aktiv gewesen. Polizei und Staatsanwaltschaft bitten deshalb um Hinweise; Opfer und deren Angehörige sollen sich melden.
Der Fall, die Szenerie, die Wohnwagen erinnern an den Fall Lüdge in Nordrhein-Westfalen. Über Jahre haben dort zwei Männer auf einem Campingplatz an der Grenze zu Niedersachsen zahlreiche Kinder zum Teil schwer sexuell missbraucht. Das Landgericht Detmold hatte die Männer im September zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Beide filmten ihre Taten, die Polizei stellte insgesamt Tausende Bild- und Videodateien sicher, die sexuelle Gewalt gegen Kinder- und Jugendliche zeigen.
Auch im Wohnwagen von K. in Kladow fanden die Ermittler umfangreiches Beweismaterial, das nun ausgewertet werden muss. Die Staatsanwaltschaft spricht von „zahlreichen Gegenständen, die nach Schilderungen der Kinder bei den Missbrauchshandlungen regelmäßig zum Einsatz gekommen sein sollen“. Es soll sich um Sexspielzeug handeln. Auch Datenträger wurden gefunden. Die Ermittler prüfen, ob der Verdächtige seine Taten gefilmt oder fotografiert hat.