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Die Aussichten: Der Berliner Winter - so wird er. Vermutlich

War das da draußen gerade ein Eisbär oder doch nur ein besonders dicker Hund? Eine vor Angst und Kälte schlotternde Zukunftsvision.

Anfang November

Es wird kälter. Was gibt es da Schöneres, als sich abends mit einer leckeren Tasse Kakao in die Lieblings-Kuschelwuschel-Decke einzumummeln und endlich mal entspannt Netflix zu Ende zu schauen?

Okay... entspannt Netflix schauen in dem Sinne, dass man sich nach jeder Folge eine Viertelstunde lang fragt, ob man nicht doch etwas verpasst.

Ach komm, doch noch mal schnell raus! Im WMF ist doch sicher was los!

Mist! Sich an der Tür daran erinnern: Das WMF gibt es seit sieben Jahren nicht mehr.

Beschließen, nichts zu überstürzen, und erst mal Tip oder Zitty abonnieren, um wieder auf dem Laufenden zu sein.

Anfang Dezember

Es ist richtig kalt geworden. Mehrere Ausgaben des Tip und der Zitty liegen ungelesen in der Ecke. Aber um diese Zeit öffnen doch die ersten Weihnachtsmärkte! Das wäre doch 'ne Idee!

Whatsapp-Gruppe "Weihnachtsmärkte" erstellen und Freunde zum gemeinsamen Besuch motivieren.

Elisa: "Dein Ernst?"

Daniel: "Zu kalt!"

Anieke: "Bin schon auf Bali. Aber im April gerne wieder was unternehmen."

Na, dann eben alleine auf den Weihnachtsmarkt. Der in Rixdorf soll ja ganz schön sein.

Der in Rixdorf ist doch nicht so schön.

Oh, ohh, ooohh! Gleeeweinnn is n irrssssiniges Zo-hohoho-ig! Merkt man gaar nich, fifil Algohol ddd drinnis!

Mit einem ausgewachsenen Kater gefühlte Monate im Bett leider: auch eine Art, den Berliner Winter rumzukriegen.

Anfang Januar

Die Stadt ist leer und zerbombt. Rote Chinaböller-Fetzen mischen sich mit angefrorenem Wasser und Hundekot. Wo sind die Trümmerfrauen, wenn man sie mal braucht? Oder überhaupt eine Frau?

Versuche, die Stadt zu erkunden und die Leere auch mal zu genießen, scheitern kläglich: Der leichte Stoff der Sneakers saugt sich mit Chinaböllerkottauwasser voll. Was für eine Sauerei.

Gut, dann eben erst mal ein paar Winterstiefel im KaDeWe kaufen. Und danach Austern in der Schlemmeretage!

Plan gescheitert: Der M29 kommt nicht. Kommt wahrscheinlich nie wieder.

Dann eben ein bisschen Gaffa um die Schuhe und Miesmuscheln aus dem Glas.

Fünf Tage Lebensmittelvergiftung.

Immerhin Netflix mit dem Smartphone auf der Toilette zu Ende geschaut.

Anfang Februar

Es hat alles keinen Sinn mehr. Seit Wochen das Haus maximal zum Einkauf verlassen. Kernseife, Konservendosen, Zündhölzer, Kerzen ... alles, was man braucht, wenn die Welt jetzt einfach so bleibt. Gefühlte Wahrscheinlichkeit dafür: 75 Prozent.

Keine Erinnerung mehr daran, wie die Sonne aussah, als es sie noch gab.

Prinzipiell immer noch gegen den Klimawandel. Aber so ein bisschen Spontanwandel wäre gerade schon gut.

Einziges Vergnügen: den Nachbarn, die ihre Kinder immer so schlecht behandeln, zweimal am Tag den Lieferservice für Eiswürfel vorbeischicken.

Aus dem Osten kommen eisige Winde, die Putin vermutlich persönlich Richtung Berlin bläst.

Der kleine dänische Vintage-Teakholztisch (755 Euro) glüht in der Ofenheizung. Egal, Hauptsache überleben.

War das da draußen gerade ein Eisbär oder doch nur ein besonders dicker Hund?

Die Punks benutzen für den Iro kein Haarspray mehr, sondern nur noch Wasser, das die Frisur augenblicklich in Form friert.

An der Grenze zwischen Kreuzberg und Treptow soll es in einem strategisch günstig gelegenen Biomarkt zu Krawallen um Ingwerknollen gekommen sein. Man munkelt von Dutzenden Verletzten. Ob sich Krankenwagen durchschlagen konnten: unklar.

Die Couscous- und Quinoa-Vorräte neigen sich dem Ende zu. Ein Nachbar schreit alle 30 Sekunden "Avocado!" in den stillen, dunklen Hinterhof.

Kompletter Baustopp auf dem BER. Als man bemerkt, dass es so zwar keine Fortschritte gibt, aber das erste Mal seit Jahren auch keinen Rückschritt, belässt man es dabei.

Blitzeis über Nacht. Wer jetzt noch rausgeht, ist wahnsinnig.

Anfang März

Was ist denn das? Ein Sonnenstrahl?

Ungläubig und unsicheren Schrittes treten die ersten Menschen ins  Freie. Sie sind bleich und ausgemergelt, ihre Gesichter sind grau.

Im Hinterhof schreit der Nachbar ein letztes Mal "Avocado!" und bricht dann in hysterisches Lachen aus. Er hat überlebt.

Direkt mal mit einem Deckchen über den Lenden den gesamten Nachmittag  vor dem Café verbringen. Endlich Sommer! Endlich Eiscreme, Flirten,  Haut, Schwimmen!

Dringend Badesachen kaufen!

War ja doch eher ein kurzer Winter dieses Jahr.

Peter Wittkamp ist erster Autor und Gagschreiber der ZDF heute-show online, Texter und  Ideengeber der mehrfach preisgekrönten BVG-Kampagne #weilwirdichlieben. Wittkamp hat mehrere Bücher geschrieben, twittert unter dem merkwürdigen Namen @diktator und hat eine Webseite mit dem sehr schönen  Namen peterwittkamp.de 

Neujahr. Die Stadt ist leer und zerbombt. Rote Chinaböller-Fetzen mischen sich mit angefrorenem Wasser und Hundekot. Wo sind die Trümmerfrauen, wenn man sie mal braucht?
Neujahr. Die Stadt ist leer und zerbombt. Rote Chinaböller-Fetzen mischen sich mit angefrorenem Wasser und Hundekot. Wo sind die Trümmerfrauen, wenn man sie mal braucht?
© Jörg Carstensen/dpa

Peter Wittkamp

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