25 Jahre Deutsche Einheit (4): Der Bahnhof Gesundbrunnen: Schäden mit Charme
Immerhin hat der Bahnhof jetzt ein Dach. Gesundbrunnen ist nach dem Mauerbau verschandelt worden, sagt Michael Wolffsohn, der hier investiert hat. Der dritte Teil unserer Serie zur deutschen Einheit.
Ein Dach kommt angeflogen. Es landet auf silbernen Stelzen vor dem Hanne-Sobeck-Platz, rechteckig und schlicht und mit neun Jahren Verspätung, aber immerhin ist es da. Der Bahnhof Gesundbrunnen darf jetzt endlich ein richtiger Bahnhof sein und ist nicht mehr eine Ansammlung von Gleisen in der Tiefe, von der oben nur die Stümpfe der Fahrstuhlschächte kündeten. Noch wird gebohrt und gefräst, die Presslufthämmer machen einen Höllenlärm – egal, „alles viel besser, als es je war“, sagt Michael Wolffsohn. Natürlich sei es schade, dass aus ursprünglichen Planungen mit viel Glas, Stahl und Klinker nichts geworden ist, „aber seit Adam und Eva ist der Mensch nun mal aus dem Paradies vertrieben“.
Der Historiker Wolffsohn ist ein groß gewachsener und quirliger Mann, immer auf dem Sprung irgendwohin oder im Gespräch mit irgendwem. Seit 34 Jahren lebt er in München und hat doch eine ganz besondere Beziehung zu Gesundbrunnen. Zu Beginn des dritten Jahrtausends hat er von seinem Vater die Gartenstadt Atlantic geerbt. Ein architektonisches Kleinod gleich am Bahnhof, aber das war damals schwerlich zu erkennen. Überall bröckelte der Putz von den mit Graffiti beschmierten Mauern, 20 Prozent der Wohnungen standen leer. Für die geschätzt 30 Millionen Euro teure Sanierung haben sich Wolffsohn und seine Frau für den Rest ihres Lebens verschuldet. Vorher haben sie die Kinder noch gefragt: „Ist es in Ordnung, wenn wir euer Erbe in Gesundbrunnen versenken?“
Der einzige ICE-Bahnhof ohne Empfangsgebäude
Alle paar Wochen kommen die Wolffsohns von München aus mit der Bahn angereist und oft genug haben sie sich geärgert über dieses Bahnhofsprovisorium, das die Bahn ihren Kunden und den Anwohnern zur offiziellen Einweihung im Frühjahr 2006 hingestellt hat. War doch gar nicht so lange her, dass die Deutsche Bahn hier mal Großes vorhatte. Ihr früherer Chef Heinz Dürr träumte in den frühen neunziger Jahren von einer Renaissance der Bahnhöfe, und Gesundbrunnen sollte Berlins Tor zum Norden werden.
Die Bauarbeiten hatten kaum begonnen, da waren sie auf der anderen Straßenseite schon fertig. Dort erhebt sich seit 1997 das Gesundbrunnen-Center. Eine Shoppingmall mit der Anmutung eines Raumschiffs und gut 100 Geschäften. Das Gesundbrunnen-Center war schuld daran, dass die Bahn ihrem Bahnhof kein Dach über den Gleisen spendieren wollte. Es ließen sich schwerlich Mieter für Gewerbeflächen finden, da die Kaufkraft im sozial eher problematischen Stadtteil Gesundbrunnen nun mal überschaubar war. Also blieb der für 114 Millionen Euro umgebaute ICE-Bahnhof der einzige in Deutschland ohne Empfangsgebäude.
Einst sah Gesundbrunnen aus wie Prenzlauer Berg - dann kam die Kahlschlagsanierung
Das Gesundbrunnen-Center hat die Gegend architektonisch nicht unbedingt aufgewertet. Und doch ist es ein Magnet, der Publikum und Leben anzieht. Zwischen Damenoberbekleidung und Zoo-Fachhandel geht es so geschäftig zu, wie es früher überall auf dem Straßenzug von Bad- und Brunnenstraße zuging. Bis der Mauerbau im August 1961 Gesundbrunnen aus seiner zentralen Lage an den Rand einer Halbstadt schleuderte. Ohne die Kundschaft aus dem Osten verödete die beliebteste Einkaufsmeile des Berliner Nordens.
Dazu hatte sich der Berliner Senat in eine Sanierungspolitik mit der Abrissbirne verliebt. Gesundbrunnen war mal ein Viertel, dessen Bausubstanz sich kaum unterschied von der nebenan in Prenzlauer Berg. Die Kahlschlagsanierung der sechziger und siebziger Jahre hat auf der westlichen Seite der Nordberliner Arbeiterquartiere ähnlich viel architektonischen Schaden angerichtet wie Bomber-Harris mit seinen Geschwadern. Als 1989 die Mauer fiel, staunten die Berliner aus der DDR über einen Westen, der mit seinen grauen Siebengeschossern sehr viel hässlicher war als ihr vom morbiden Altbaucharme gezeichneter Osten. „Wer Gesundbrunnen in den sechziger und siebziger Jahren verschandelt hat, soll zur Strafe in der Sahara Schnee schippen“, sagt Michael Wolffsohn.
Hertha, Beton, Kriminalität
Der neue Bahnhof sollte neues Leben und neuen Glanz nach Gesundbrunnen bringen – und stand doch erst mal nur als Symbol für das misslungene Zusammenwachsen der Stadt an ihrer nördlichen Nahtstelle. Langsam nur fügen sich die Dinge. Ein Empfangsgebäude gibt es immer noch nicht, aber immerhin ein Dach. Darunter drängen sich die üblichen Verdächtigen: Backshop, Döner, McDonald’s. Wer sich seinen Weg durch die neue Berliner Erlebnisgastronomie bahnt und kurz vor den Treppen zu den Gleisen links abbiegt, der findet sogar ein neu eingerichtetes Reisezentrum. Die Fahrpläne mit Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge sind an einen Bauzaun gepinnt.
In der öffentlichen Wahrnehmung steht Gesundbrunnen für Hertha BSC, Beton und Kriminalität. Hertha BSC ist Anfang der neunziger Jahre ins feine Westend umgezogen, die Probleme sind geblieben. Im Berliner Sozialatlas reicht es traditionell nur für einen der hinteren Plätze. Aber langsam tut sich etwas. Das alte Hertha-Domizil, eine Villa an der Behmstraße, ist zu einem leuchtend weißen Hostel umgebaut worden. Am Zaun nebenan verheißt ein Schild den Bau eines Hotels mit 130 Zimmern. Und dann ist da noch die Gartenstadt Atlantic.
Die Bahn hätte aus Gesundbrunnen gerne Nordkreuz gemacht
Vor drei Jahren ist Michael Wolffsohn als Professor an der Universität der Bundeswehr in München emeritiert worden und fährt seitdem noch häufiger mit seiner Frau nach Berlin. Immer mit der Bahn und immer nach Gesundbrunnen, sozusagen bis vor die Haustür, denn natürlich haben die Wolffsohns eine Wohnung in ihrer Siedlung bezogen. Heute ist es gar nicht so leicht, an den Fassaden der 50 sanierten Häuser auch nur ein einziges Graffito zu finden. Dafür gibt es allerlei Angebote für Kinder, unter anderem eine „Lernwerkstatt für zauberhafte Physik“. Zu den gewerblichen Mietern zählen der Verein Berliner Unterwelten, Architekten, Hebammen, Logopäden und jede Menge Ärzte, der Maler Günther Uecker unterhält in der Heidebrinker Straße ein Atelier. Das entspricht nicht gerade der gängigen Gesundbrunner Mischung. In der Gartenstadt Atlantic zeigt sich, was möglich gewesen wäre und was möglich ist in diesem Stadtteil, dessen Name immer noch mehr verspricht, als die Wirklichkeit halten kann.
Diesen Namen hätte die Bahn gern getilgt, als sie 2006 den halb fertigen Bahnhof hinklotzte. Aus Gesundbrunnen sollte ein Nordkreuz werden. Dagegen aber begehrten die Bezirkspolitiker und sonst jede Menge Bürger auf und es blieb bei Gesundbrunnen. „Was denn sonst?“, sagt Michael Wolffsohn. „Der Mensch lebt zum Glück auch von Gefühlen. Nordkreuz ist rein funktional, geografisch. Wir sind keine Roboter, sondern Menschen!“