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David und Goliath. Jugendliche werfen am 17. Juni 1953 Steine auf sowjetische Panzer in der Leipziger Straße. Foto: picture-alliance/akg
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17. Juni: Der Aufstand begann nicht an der Stalinallee

Am Anfang des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 standen Proteste auf einer Klinik-Baustelle. Jetzt erinnert eine Gedenktafel an die Bauarbeiter, die als Erste den Funken auf die Straße trugen

Der Arbeiteraufstand vom Juni 1953 in der DDR begann – so denken viele – auf der Ost-Berliner Stalinallee. Am 16. Juni hatten die Arbeiter auf einer der großen Wohnhausbaustellen an der Straße, die heute Frankfurter Allee und Karl-Marx-Allee heißt, die Arbeit niedergelegt. Sie protestierten, weil ihnen die Regierung den Lohn gekürzt und höhere Arbeitsnormen aufgezwungen hatte. Tags darauf weiteten sich die Streiks auf die ganze DDR aus. Doch nimmt man es ganz genau, verlief die Vorgeschichte des Aufstands etwas anders: Er begann nämlich mit einem geplanten Streik auf der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain an der Landsberger Allee. Daran hat am Mittwoch Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, mit der Übergabe einer Gedenktafel erinnert.

Es ist nur eine Einzelheit mehr, die zur Geschichte des ersten Aufstands in der DDR gehört, bei dem mindestens 55 Frauen und Männer ums Leben gekommen sind. Zur Erinnerung an diese Geschichte gehört die Erinnerung an Menschen, die die Proteste organisiert haben und dafür ins Gefängnis kamen. Einer von diesen Menschen war der Gewerkschafter Max Fettling. Der stellte am Montag, dem 15. Juni 1953 fest, dass die meisten Arbeiter auf der Krankenhausbaustelle ans Arbeiten nicht dachten: Weil sie die erhöhten Normen nicht geschafft hatten, war ihnen der Lohn gekürzt worden. Der Kreissekretär ihrer Gewerkschaft weigerte sich, etwas dagegen zu unternehmen.

Mit dem Gewerkschafter Max Fettling war es anders: Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) formulierte eine Resolution, die dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl übergeben werden sollte. Bei der Abstimmung des Inhalts mit einem SED-Funktionär fand der die Forderungen der Arbeiter berechtigt, den Text aber „unverschämt“. Also verfasste er das Schreiben neu, Gewerkschafter Fettling unterschrieb es bloß. Dann machten sich die Bauarbeiter von Friedrichshain aus auf den Weg zum Haus der Ministerien an der Leipziger Straße. Die Volkspolizei vermerkte am 16. Juni, 10 Uhr 25, eine „Demonstrationsbildung“: „Ca. 700 Bauarbeiter marschieren vom Krankenhaus Friedrichshain kommend über Leninplatz die Friedenstr. in Richtung Stalinallee herunter.“ Das hat die Bundeszentrale für politische Bildung auf einer Seite zum 17. Juni dokumentiert.

Auf dem Weg dorthin passierten sie die Großbaustellen an der Stalinallee und forderten die Arbeiter dort auf, mit ihnen zu marschieren. „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein“ – das sollen sie in Sprechchören gerufen haben.

Der Generalstreik am 17. Juni brachte Hunderttausende in der ganzen DDR auf die Straße. Das Regime schlug mit Panzern und Gewehren den Aufstand nieder. Gewerkschafter Fettling wurde, wie Knabe recherchiert hat, in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni als „Streikführer“ verhaftet und in eine der Zellen des Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Hohenschönhausen gesperrt. Dort machte die Stasi mit ihm das Übliche: stundenlange Vernehmungen, laut Protokoll etwa von 1.15 bis 4.15 Uhr, Tage später von 17 bis 1 Uhr. „Auch die darauf folgenden Verhöre fanden grundsätzlich bis in die späte Nacht statt, weil man wusste, dass die Widerstandskraft der Häftlinge dann am geringsten war, zumal den Gefangenen verboten war, sich auf der Pritsche auszuruhen“, schreibt Knabe.

Dass sich der Gewerkschaftsmann keiner Schuld bewusst war, erfuhren seine Vernehmer von einem Spitzel, den sie in der verliesartigen Zelle einquartiert hatten. Man nötigte das Eingeständnis ab, vor den Streikenden „zurückgewichen“ zu sein. Knapp ein Jahr nach dem Aufstand wurde Max Fettling zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gericht sprach ihn der „Sabotage“ schuldig und befand, er sei „faschistischen Parolen“ gefolgt. Im Sommer 1957 kam er vorzeitig aus dem Gefängnis. Mit seiner Frau flüchtete er nach West-Berlin. Für Hubertus Knabe ist der Brief, den Fettling nicht formuliert, aber unterschrieben hatte, „der Punkt, von dem alles ausging“.

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