Neue Corona-Strategie in Berlin: „Dass jeder Fall mit viel Aufwand bearbeitet wird, ist nicht mehr möglich“
Die Gesundheitsämter kommen bei der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Nun sollen die Berlinerinnen und Berliner selbst ran.
Die Gesundheitssenatorin tritt ein bisschen später vor die Presse als geplant, mit den Vertretern der Bezirke gab es viel zu besprechen. Während die TV-Teams auf Dilek Kalayci (SPD) warten, laufen sechs Soldaten an ihnen vorbei in das Gebäude – mit knallroten Mund-Nase-Bedeckungen. Dann kommt Kalayci vor das Haus, der Blick noch ein bisschen ernster als sonst. Und die Senatorin sagt: „Es gibt eine Anpassung der Strategie!“
Die Gesundheitsämter kämen mit der Verfolgung der Kontakte von Corona-Infizierten nicht hinterher. Tatsächlich gab es Fälle, bei denen Infizierte bis zu sieben Tage auf den Anruf aus ihrem Gesundheitsamt warteten – kostbare Zeit, in der sich das Virus verbreiten kann.
„Dass jeder einzelne Fall mit viel Aufwand und sehr zügig bearbeitet wird, ist nicht mehr möglich“, sagt Kalayci. Die Ressourcen würde man nun auf „vulnerable Gruppen“ konzentrieren. Auf jene also, die dem Virus besonders schutzlos ausgeliefert sind: Hochbetagte, chronisch Kranke, Obdachlose, Heimbewohnerinnen.
Für alle anderen – letztlich die Masse – gelte von nun an eine „kreative“ Strategie, sagt Kalayci, ohne konkreter zu werden. Die aktuelle Verordnung, von der die Senatorin spricht, bleibt ungewöhnlich allgemein. Im Kern geht es darum, den Berlinern zügig Eigenverantwortung anzutrainieren: Jeder solle im Fall einer Ansteckung zu Hause bleiben.
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Neben der Senatorin tritt nun Falko Liecke (CDU), Gesundheitsstadtrat von Neukölln, vor die Mikros: Die Berliner sollten nicht mehr auf den Anruf des Gesundheitsamts warten, sondern sich im Fall eines positiven Testergebnisses unverzüglich in Selbstisolation begeben – verpflichtend.
Nicht nur das, Betroffene müssen auch selbstständig ihre Kontaktpersonen anrufen. Eine breite Kampagne sei geplant, um die Bürgerinnen und Bürger umfassend zu informieren über „Social Media und andere Kanäle“. In Neukölln und sieben weiteren Bezirken sei die Verordnung schon in Kraft, sagt Senatorin Kalayci, die anderen vier würden in der kommenden Woche folgen.
Doch auf der Internetseite des Neuköllner Bezirksamts findet sich bislang lediglich ein Text mit vielen Paragrafen. Liecke räumt ein: „Das ist jetzt noch Juristendeutsch.“
Es fehlen fast 500 Fachleute in den Bezirken
Die Gesundheitsämter sind seit jeher knapp besetzt – bereits lange vor der Pandemie. Legt man die Analysen des rot-rot-grünen Senats zugrunde, die im Plan zum „Mustergesundheitsamt“ festgeschrieben sind, dann fehlen in den Bezirken insgesamt fast 500 Fachleute: Ärztinnen, Pädagogen, Übersetzerinnen, IT-Leute.
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Doch Kalayci hat am Freitag auch Erfreuliches zu verkünden: „Die Schnelltests sind da.“ Ab Samstag werden sie in der Altenpflege eingesetzt. Ab kommender Woche sollen die Tests an die Obdachlosenhilfe und Kliniken gehen. Viele im Gesundheitswesen rechnen tatsächlich mit einer Entlastung.
Kalaycis Chef, Michael Müller (SPD), hatte noch am Donnerstag gesagt, ein Lockdown sei nicht mehr auszuschließen. Auch Müller appellierte an die Eigenverantwortung und verwies auf geplante Kontrollen zur Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen: Am Wochenende sollen dafür 1000 Polizisten im Einsatz sein.
Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid hatte vor zu viel Härte gewarnt, gerade mit Blick auf die sogenannten vulnerablen Gruppen: „Wir halten es für grausam, wenn man alte und kranke Menschen von ihren Angehörigen abschneidet. Epidemiologisch ergibt es ohnehin keinen Sinn und deshalb muss man auf die sichere Durchführung von Besuch achten.“