Notaufnahmelager Marienfelde: Das Wartezimmer zur Freiheit
Vor 60 Jahren öffnete das Notaufnahmelager Marienfelde. DDR-Flüchtling Wilfried Seiring erinnert sich an die 16 Tage voller Hoffen und Bangen – und Läusepuder.
Sie haben ihn ja richtig rausgegängelt, diese Typen mit dem Parteiabzeichen am Revers, die glaubten, die stalinistische Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Wären sie nicht gewesen – aus Wilfried Seiring hätte damals vielleicht ein braver Kämpfer für den Frieden und ein guter Lehrer werden können. Aber so?
Der Junge aus Frankfurt (Oder) kommt als begeisterter FDJler 1954 an die Ernst- Moritz-Arndt-Universität Greifswald, um Germanistik und Geschichte zu studieren. Er wird Seminargruppensekretär der Jugendorganisation. Aber dann enthüllt Nikita Chruschtschow die Verbrechen Stalins, und auch in Ungarn wird – nach dem 17. Juni 1953 in der DDR – die Sehnsucht nach einem freien Leben von Panzern niedergewalzt. Das empört den Mann. Er entwirft eine Resolution, die mit 49:1 Stimmen angenommen wird, schickt sie an alle Hochschulgruppen der DDR und fordert darin die Solidarität mit den um Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit kämpfenden ungarischen Kommilitonen. Das reicht für ein Disziplinarverfahren und für eine Exmatrikulation. „Der Student wird im Interesse seiner menschlichen Weiterbildung vom Studium ausgeschlossen“, er soll sich in der Produktion bewähren. Auch die SED wirft in raus, denn „... seine feindliche Tätigkeit zeigt sich darin, daß er Gegner jeder Gewalt ist und somit die Diktatur des Proletariats ablehnt“.
Der Friedensfreund packt ein Köfferchen und fährt im Morgengrauen des 7. Mai 1957 nach Berlin. In der Schuhsohle hat Wilfried Seiring die Kleinbild-Negative mit seinen Zeugnissen versteckt. Sein Herz schlägt bis zum Hals, als der Bahnhof Friedrichstraße hinter ihm verschwindet: Alles geht gut. Am Zoo steigt er aus und fragt sich zum Notaufnahmelager Marienfelde durch. „Ich wusste: Du bist in der Freiheit angekommen, aber du gehst in ein Niemandsland“. Die neuen Lebensumstände in den schmucklosen dreistöckigen Häusern an der Marienfelder Allee dämpfen die Freude, im Westen zu sein. Alles ist anders und neu. Am 9. Mai wird er 22 Jahre alt. Keine Feier, kein Gratulant, nichts. Nur Hoffnung. „Es war der einsamste Geburtstag meines Lebens“. Das neue Dasein in einem total überfüllten Lager ist der Preis der Freiheit. „Einerseits möchtest du dich mit anderen austauschen, die eigene Geschichte erzählen und von anderen hören, was sie hierhergebracht hat“, erinnert sich Seiring heute, „andererseits gab es dauernd Lautsprecherdurchsagen mit der Bitte, gegenüber anderen nicht über seinen ,Fall’ zu sprechen, denn die Stasi hatte auch hier ihre Ohren“. Man schätzt heute, dass zehn Prozent der DDR-Flüchtlinge, die durch das Lager gekommen sind, von der Staatssicherheit geschickt waren. In den Stasi-Akten fand sich übrigens die haargenaue Skizze des Zimmers, in dem die CIA die geflohenen DDR-Menschen ausforschte, eine Prozedur, bei der die drei Alliierten ihre Spezialisten einsetzen und jeden Neuankömmling in ihrer „Sichtungsstelle“ nach persönlichen Umständen, nach seinem Betrieb und seinen Fluchtgründen befragen. Flüchtling Seiring sollte sagen, wo die Rote Armee in Greifswald ihre Kasernen hatte und wie die Nationale Volksarmee untergebracht und bestückt war. „Woher sollte ich das wissen? Dafür habe ich mich nie interessiert. Schließlich ließen die neugierigen Geheimdienstler erkennen, dass sie auch ohne mich schon alles wussten.“
Nicht jeder findet im Westen das Gold, das er sich erhofft hatte.
Seiring, der im Mai 78 Jahre alt wird, hat all die Utensilien seiner damaligen Odyssee in einem Hefter aufbewahrt, auch den „Laufzettel“ zu den zwölf Stationen des Notaufnahmeverfahrens. Am Anfang stand die ärztliche Untersuchung, „da bekam ich Puder aufs Haupt und fand die Annahme, dass ich Läuse mitgebracht hätte, höchst merkwürdig“. Dann folgten die Amis, Engländer und Franzosen mit ihren Fragen, auch die deutsche Polizei hatte eine Sichtungsstelle, und diverse im Kalten Krieg operierende Organisationen wie die Ostbüros der Parteien, die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit oder der Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen. Nach 16 Tagen im Lager, wo zeitweise zwölf Betten in einem Zimmer belegt waren, wurde Seiring als politischer Flüchtling anerkannt. „Der schönste Moment: Als ich den Ausweis for all country in der Hand hielt“.
Die elterliche Wohnung in Frankfurt war übrigens bis 1983 verwanzt, seine Eltern und Brüder wurden von 19 IM beschattet. Seiring studierte an der FU, wurde Lehrer, Schulleiter, Oberschulrat und beendete sein hauptamtliches Arbeitsleben als Leiter des Landesschulamtes Berlin. Seitdem ist er Direktor des Lehrer-Ausbildungsinstituts beim Humanistischen Verband. Und er erzählt jungen Leuten, wie er der Willkür entkommen ist. „Ich bin ohne Hass geblieben und ohne Rachegedanken, ich bin kein kalter Krieger geworden.“ Wohl aber ein Agitator für das Glück der menschlichen Freiheit, der seine Mission per Video in der ständigen Ausstellung „Flucht im geteilten Deutschland“ in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde an die Besucher weitergibt.
Koffer, immer wieder Koffer stehen in den Räumen, die so gar kein museales Flair verströmen, sondern mit harten Fakten ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart holen. Ausstellungsbegleiter und Politologe Gerhard Wendt führt nicht ohne Emotion durch die Räume von damals mit 900 Exponaten und sieben Ausstellungskapiteln wie „Gründe zu gehen“, „Das Notaufnahmeverfahren“, „Feindobjekt“ oder „Im Westen angekommen“. Bis 1990 passierten insgesamt 1,35 Millionen DDR-Flüchtlinge und Übersiedler sowie von 1962 bis 2010 rund 96 000 Aussiedler dieses schmale Tor zur Freiheit. Heute leben hier rund 600 Flüchtlinge und Asylbewerber aus 20 Nationen.
Am kommenden Sonntag wird in einem Festakt an den 60. Jahrestag des Lagers erinnert, Bundespräsident Gauck wird dabei sein. Als Theodor Heuss das Lager am 14. April 1953 eröffnete, waren die Gebäude noch nicht fertig. Erst im August zogen die ersten Flüchtlinge in die 15 neuen Wohnblocks. Die Zahlen der Neuankömmlinge waren stets ein Seismograf für die restriktive DDR-Politik nach innen: Bis zum Mauerbau 1961 kamen täglich bis zu 2000 Menschen, unter ihnen viele Jugendliche – ein Aderlass, den die DDR nie verkraften konnte. Nach dem 13. August 1961 ebbt der Strom schlagartig ab, aber seit 1984 kommen immer mehr ausgebürgerte Ärzte, Handwerker, Anwälte und andere gut ausgebildete Werktätige mit ihren Familien, 1989 die Botschafts- und die Ungarn-Flüchtlinge, und dann, nach dem 9. November 1989, Tausende, die der neuen Reisefreiheit nicht trauen. Das System DDR kollabiert.
Nicht jeder findet im Westen das Gold, das er sich erhofft hatte, manch anderer kann endlich seine Talente entfalten. Einige Menschen, die einst durchs Lager gingen, schauen den Besucher von einer Fotowand an: Horst Köhler, Rudi Dutschke, Klaus Staeck, Uwe Johnson, Gerhard Richter, Nina Hagen, Günter Uecker, Dieter Hallervorden. Wie hatte Theodor Heuss seine Rede am 14. April 1953 geschlossen? „Heute ist diese Stadt das enge Tor, zum Westen geöffnet, durch das sich Menschen, in Angst, Not und Sorge, aus Enttäuschung in Hoffnung und Sicherheit drängen. Der Sinn der politischen Mühen muss sein, dass dieses Tor seine Flügel nach Osten wiederöffne, dass dorthin, dorthin die Wanderung in die Freiheit möglich wird“.
Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Marienfelder Allee 66/80, geöffnet Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr (Sonntag, 14. April, ab 14 Uhr) Eintritt frei