TXL-Volksentscheid: „Das war viel zu kompliziert für Laien“
Der Politikwissenschaftler Carsten Koschmieder über knifflige Fragen und die Folgen des Referendums.
Carsten Koschmieder ist Politikwissenschaftler der Freien Universität zu Berlin. Er forschte insbesondere zur Piratenpartei und im Zuge dessen intensiv zur direkten Demokratie.
Herr Koschmieder, ist der Volksentscheid ein gutes Instrument, um den Bürger am politischen Geschehen zu beteiligen?
Nein – zumindest nicht in der Form, wie er heute in Berlin geregelt ist. Er kann auf sehr begrenzter lokaler Ebene ein sinnvolles Mittel sein, wenn die Leute direkt betroffen sind und der Kreis der Betroffenen sehr eingeschränkt ist, beispielsweise bei der Gestaltung einer Straße – Spielplatz oder kein Spielplatz – bei solchen Fragen. Auf Landes- und Bundesebene kommen die Probleme eines Volksentscheides – wie jetzt bei der Tegel-Abstimmung – gravierend zum Tragen.
Welche denn?
Zunächst die soziale Ungleichheit. Wir wissen, dass Menschen mit einer höheren formalen Bildung und höherem Einkommen eher zur Wahl gehen als Menschen mit geringerer Bildung und geringerem Einkommen. Diese Schere wird größer, je schwieriger die Materie ist.
Die Frage zu Tegel auf dem Stimmzettel ist recht kompliziert formuliert, eine Partei anzukreuzen ist einfacher. Deswegen ist diese soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung bei Volksentscheiden deutlich höher als bei Wahlen. Studien zeigen zudem, dass Menschen mit einer formal niedrigen Bildung häufiger aus Versehen anders abstimmen, als sie wollten.
Also finden Sie das Referendum nicht fair?
Unterschiedliche soziale Gruppen haben unterschiedliche Interessen. Und wer ist eigentlich betroffen? Auch in Brandenburg leiden einige unter dem Fluglärm Tegels – die dürfen aber nicht abstimmen. Nach meiner Überzeugung bedeutet Demokratie auch, dass verschiedene Interessen in den politischen Prozess eingebracht werden.
Menschen mit einem höheren Einkommen wollen vielleicht den Flughafen, um von dort zu fliegen, Menschen mit einem geringeren Einkommen wohnen dann eher in der Einflugschneise.
Die könnten überstimmt werden.
Eben. Im Parlamentarismus gibt es Mechanismen, die dafür sorgen, dass Minderheiten geschützt werden. Beim Volksentscheid gewinnt der Stärkere. Die Menschen, die beispielsweise in der Einflugschneise von Tegel wohnen, sind diese Minderheit. Hier entscheiden viele gegen wenige, die aber stark negativ betroffen sind. Das Schöne an der parlamentarischen Demokratie ist der Kompromiss. Der ist mindestens die schönste Erfindung seit dem Rad.
Die Befürworter des Volksentscheides sagen: Das Volk entscheidet eben.
Als gäbe es nur eine Sache, die das Volk will. Meistens wollen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge. Da hilft nur ein Kompromiss – nur der ist fair. Am Ende wird eine sehr große Gruppe als Verliererin vom Platz gehen.
Beim Volksentscheid soll eigentlich eine Sachentscheidung getroffen werden – auf Faktenbasis. Oft scheinen aber vor allem Emotionen die Debatte zu bestimmen.
Die Themen in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sind oft viel zu kompliziert, als dass ein Laie alles verstehen kann. Wer Vollzeit arbeitet, sich um Familie kümmert und so weiter, hat keine Möglichkeit, sich so intensiv in ein Thema einzuarbeiten, dass er es durchdringen und dann aufgrund von Fakten entscheiden kann.
Die Bürger müssen sich also darauf verlassen, dass die Informationen von den Initiatoren stimmen. Wenn es aber wie im vorliegenden Fall mit Tegel um komplizierte juristische Fragen geht, bei denen Juristen unterschiedlicher Ansicht sind, ist es kaum möglich, auf einer rationalen Sachgrundlage zu entscheiden. Da ist es einfacher, eine auf emotionalen Gründen basierende Entscheidung zu treffen.
Es heißt, Volksentscheide sind immer auch eine Abrechnung mit der aktuellen Regierung. Ist das ein Symptom davon?
Die Regierung hat die Möglichkeit, auf die Initiatoren eines Volksentscheides zuzugehen. Häufig aber wird auch hier die rationale Sachentscheidung überlagert, wenn ich der Regierung einen Denkzettel verpassen möchte oder den Oppositionsführer stärken will.
Die FDP hat ja bereits angekündigt, wenn der Volksentscheid pro Tegel durchkommt, das als ein Signal zu verstehen, ein Abwahlvolksbegehren gegen den Senat zu initiieren. Das ist absurd. Denn so macht die FDP ja ganz offen Werbung damit, dass es ihr gar nicht um die Sache geht, sondern darum, dem – unbeliebtem – Senat eins reinzuwürgen.
Finden Sie es verwerflich, dass eine Partei, die im Parlament sitzt, sich eines Werkzeugs bedient, das für das Volk gedacht ist?
Nein, wenn die Möglichkeit da ist, kann man den Akteuren nicht vorwerfen, dass sie sie nutzen. Ich sehe eher kritisch, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt. Volksentscheide gehören nicht zur Verfassungsarchitektur Deutschlands wie in der Schweiz, hierzulande sind sie neu. Wenn man so etwas einführt, muss man es deshalb wirklich gut regeln – hat man aber nicht.
Es ist beispielsweise unklar, wie wann durch wen ein durch das Volk beschlossenes Gesetz geändert werden darf. Kann das Parlament am nächsten Tag die Entscheidung wieder kippen – oder auch in zwanzig Jahren nicht? Ich befürchte außerdem, dass nach dem Tegel-Referendum die Unzufriedenheit der Menschen wachsen könnte: Sie stimmen über etwas ab, das dann rechtlich überhaupt nicht umgesetzt werden kann. Das könnte zu großen Frustrationen führen.
Die AfD sagte in der Abgeordnetenhausdebatte zu Tegel, „Wo ein Wille ist, ist ein Weg“, dann müsse man eben das Recht ändern.
Da sieht man sehr schön, warum die AfD eine Gefahr für unsere Demokratie ist. Sie möchte ein System, in dem der angebliche Wille „des“ Volkes ohne Rücksicht auf Gesetze, Minderheiten, demokratische Institutionen oder Gerichte umgesetzt werden muss. Das ist die Verabschiedung von der parlamentarischen Demokratie und insbesondere vom Rechtsstaat.
Was sollte der Gesetzgeber tun?
Die Bestimmungen sollten so geändert werden, dass Volksentscheide nur konkret verbindlich ein Gesetz zum Inhalt haben. Und nicht wie im Fall von Tegel, wo es heißt: „Der Senat soll mal Maßnahmen einleiten“. Es muss klar geregelt werden, wie lange das Gesetz gilt, wer es ändern kann, und mit welchen Mehrheiten es wieder abgeschafft werden kann, etwa, wenn sich die Gesamtsituation ändert.
Das Gespräch führte Ronja Ringelstein.