Wahlkampf in einer Berliner Eckkneipe: Das Wahllokal
Auf der Straße, im TV, im Internet - draußen tobt der Wahlkampf. In der Kneipe sitzen die Menschen und reden. Über Politik? Nur am Rande. Politisch? Ist das hier trotzdem! Sieben Tage dort, wo man sich trifft.
Wahlkampf ist Volksnähe. Man muss da ran an die Leute, ganz dicht. Steinbrück lädt ins Wohnzimmer, Merkel hält Bierzeltreden. Klar, ist wichtig, die Herzen und Hirne, die müssen erreicht werden. Mit Kampagnen, den Fernsehspots, den hingehängten Lächelgesichtern am Straßenrand. Das Volk entscheidet. Was aber denkt dieses Volk tatsächlich, worüber spricht es, jeden Tag. So kurz vor der Wahl. Zum Frühstück Merkel, zum Abendessen Steinbrück. Und dazwischen: bisschen Brüderle, bisschen Trittin? Ist das so?
Was wird zum Beispiel geredet, gedacht, wo der kleine Mann von der Straße sein kleines Bier von der Theke trinkt? In der Eckkneipe? Die war ja mal Volksort. Ist heute, trotz Nichtraucherschutz, trotz Internet, noch immer geteilte Öffentlichkeit, in der man sich freiwillig einander aussetzt. Auch wenn man sonst nichts gemein hat. Nicht die Herkunft, nicht die Religion, nicht die Arbeit. In die Kneipe gehen - das ist auch jedes Mal: ein Experiment.
Auch deshalb muss man genau dahin. Und dann dort eine ganze Woche verbringen, während draußen Wahlkampf ist. Sieben Tage lang an der Volksseele riechen. Immer auch Milieustudie, Maulschau. Mitkriegen, wohin die Gespräche treiben, ohne selbst Einfluss zu nehmen. Falsch wäre: Reinplatzen, Tür ins Haus, was halten Sie eigentlich von Angela Merkel? Stattdessen: Warten, auch das Alltägliche, das Gefasel, das Nichts aushalten und dieses Nichts dann protokollieren.
Die Quelle, Alt-Moabit Ecke Stromstraße, ist dafür der richtige Laden, ein Berliner Original. Vorzeigeeckkneipe. Nicht zu weit draußen, nicht zu weit drin. Da vorne Wedding, dahinten Mitte. Stand schon dort, früher Destille, als Deutschland noch Kaiserreich war. Weimarer Republik, Weltkriege. Wirtschaftswunder, Mauerfall. Unbeeindruckt von den Zeitläuften. Lenin hat hier das 19. Jahrhundert gehen, das 20. kommen sehen. Karl Dall, später, die Zeit vergessen. Hier trinken Rentner, Arbeitslose, Angestellte, die Obdachlosen aus dem nahe gelegenen Park, die Beamten aus dem nahe gelegenen Innenministerium. Die Quelle ist das Herz von Moabit, sagen die Leute. Nie geschlossen, immer offen für alle. Man muss nur durch die große Tür treten, reingehen. Volk wagen. Hereinspaziert.
Tag 1, 30. August 2013
"Hartz IV ist kein Lebenszustand." (Angela Merkel, Bundeskanzlerin)
"Ich lasse noch einen Euro springen. Für Andrea Berg." (Hans-Werner, Hartz-IV-Empfänger)
Heute ist Hartz-IV-Tag. Die Quelle, zwanzig nach vier am Nachmittag, bereits angefüllt mit Körpern, Rauch, dem Geruch nach Alkohol, dem Surren der Gespräche. Die Menschen am Tresen, die Köpfe im matten Licht der Art-Déco-Ballons, sprechen und bewegen sich aneinander vorbei, übereinander hinweg, als wäre das hier nur die Wiederaufführung eines schon hunderte Male gespielten Stücks. Ein älterer Herr tritt an den Tresen. Übergangsjacke, Übergangsgesicht. Schaut sich um, ist nicht von hier, irritiert. Ein Tourist vielleicht, ein Handelsreisender, der in einem der benachbarten Hotels untergekommen ist. Er fragt: "Was ist hier los?" Die Bedienung, Seelenruhe, trocknet das Glas in ihrer Hand. "Heute ist Geld-Tag." Sie wischt, er schaut. In der Ecke Geschrei. "Ah, Idiotentag", sagt er, bestellt ein Bier, setzt sich. "Heute ist der 30.", sagt sie nun, mehr zu sich selbst, zapft das Bier, beobachtet ihre Gäste, "die haben alle ihr Geld bekommen." Sie reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. "Jetzt ist es voll. Morgen vielleicht noch. Und Sonntag. Dann nicht mehr." Die Frau hinter der Theke arbeitet seit 26 Jahren in der Quelle. Die Männer am Tresen, Meine Schöne, sagen sie. Machste noch zwei. Liebling, Schatz, Engelchen. Und wenn der Inder mit den Rosen kommt, kaufen die Männer ihr eine, vielleicht auch zwei. Sie nimmt die Rosen mit einem Lächeln, macht noch zwei, trinkt einen mit und stellt sie dann in eine Vase am anderen Ende des Tresens. Als würde sie dort die Zuneigung der Männer sammeln, um ihrer nicht überdrüssig zu werden. Ein ganzer Strauß steht schon dort. Heute, Hartz-IV-Tag, ist das Geld da, für Rosen, für Schnäpse. Und für Musik. Eine schmale Frau steht vor der Jukebox am Eingang und wirft Münzen nach. 50 Cent für zwei Lieder. Andrea Berg. Schlager. Geht gut. Erzähl mir deine Träume, erzähl mir deine Geschichten. Sie summt mit, geht zurück zu ihrem Platz, wo ein halb volles Bier und Hans-Werner auf sie warten. Er hat früher mal in der Nähe gewohnt. War dann lange weg. Scheckkarten- und Katalog-Betrug. Darüber spricht er ganz offen. Geheimnisse kann man woanders haben, aber bitte nicht hier. In der Quelle. Hier ist man unter sich. Langsam, das Bierglas vor sich her tragend, nähert sich ein zweiter Mann, wie ausgeschnitten aus einem Männerbekleidungsprospekt der 70er. Hose Cord, Hemd Flanell, Scheitel sauber gezogen, in den Falten unter den Augen 63 Jahre Leben. Sieht aus wie altes Westberlin. Stellt sich vor. Spricht auch, "Verzeihung", wie altes Westberlin: "Peter Heinz Reinhold." Kneipe, das ist auch der Ort, an dem Männer mehr als nur einen Vornamen haben. Das Gespräch flimmert, verweilt nirgends lang. Hans-Werner hat bald Geburtstag. Er möchte Wildschwein-Gulasch machen. Großartig, findet Andrea. Sie macht am Sonntag Rouladen. Mit Speck, fragt Peter. Nein, mit Knackern. Ach, ja? Das kann sich Peter nicht vorstellen, er ist da traditioneller. Dann aber erzählt Andrea, aus dem Nichts des Zigarettendunstes, von ihren Kindern, vier, und ihren Enkeln, zwei. Und davon, wie schwer es ist, für alle zu sorgen. Andrea hat die Statur eines jungen Mädchens, das Gesicht allerdings ist vor ihr gealtert. Sie kann ihren Beruf nicht mehr ausüben, aus gesundheitlichen Gründen. Nur deshalb. Und das macht sie wütend. "Mit Hartz IV", sagt sie, "denken die Leute doch, man ist dumm." Und Peter nickt und Hans-Werner nickt auch. Andrea, Hans-Werner und Peter Heinz Reinhold. Sitzen, stoßen an.
Andrea: "Entschuldigung, jetzt haben wir wieder Spaß." Hans-Werner: "Darum geht es nicht." Peter: "Es geht immer um etwas." Hans-Werner: "Ich lass noch einen springen. Für Andrea Berg." Peter: "Herr Hochwohlgeboren bekommt jetzt noch ein Bier."
In der Jukebox beginnt das nächste Lied. Andrea steht auf. Beginnt sich, ganz allein, genau in der Mitte zwischen Tresen und Musik zu drehen. Sie hat jetzt Spaß. Hans-Werner, die Lider geschlossen, zuckt, presst sich die Faust vor die Lippen. Erzähl mir deine Träume, erzähl mir deine Geschichten. Nein, heute nicht mehr. Hartz-IV-Tag. Es ist gerade 21 Uhr. Kurz bevor Peter geht, sagt er: "Früher, wenn wir in ein Lokal gegangen sind, haben wir immer gesagt: Du nimmst einen Teil davon mit nach Hause. Und ein Stück von dir bleibt hier."
Tag 2, 31. August 2013
"Schluss mit Pfandsammeln. Mindestrente von 1050 Euro." Die Linke, Partei
"Wenn es gut läuft, kann man sich davon ein Essen leisten." Hexe, Pfandsammlerin
Es ist 15:30 Uhr. Bundesligaanstoßzeit. Interessiert hier drin aber niemanden. Die Frau hinterm Tresen, eine andere als gestern, die Haare vorne rot gefärbt, Zigarettenspitze, Gastronomie-Urgestein, hat früher mal in einer Hertha-Kneipe gearbeitet. "Nie wieder", sagt sie, während sie die Tische abräumt. Fußball gibt es in der Quelle seit Jahren nicht mehr. Zu teuer. Die Leinwand hängt noch über dem Stammtisch hinten in der Ecke. Unbrauchbar. Ein Gemälde ohne Inhalt. Tür auf. Herein tritt eine Frau ohne erkennbares Alter. Graue Locken, Basecap, Holzfällerhemd, im Gesicht etwas Persisches. Sie, einen zusammengeklappten Roller unter dem Arm, eine goldene Fahrradkette um den Hals, wird herzlich begrüßt. "Hexenkind", sagt die Frau hinter der Theke, "wo warste denn so lange?" "Auf’m Flohmarkt", sagt Hexe. "Ich habe mir meine Erinnerungen zurückgeholt." Dann setzt sie sich hinten in die Ecke, Stammtisch, nahe am Tresen. Jetzt erst mal: rauchen. Wenig sprechen. Hexe will Ruhe haben, Hexe macht Pause. Hexe, die weder lesen noch schreiben kann, früher aber, sagt sie, eine Tischlerausbildung gemacht hat, ist Pfandsammlerin. Sonst: Berufsunfähigkeit, Grundsicherung. Und, läuft? "Wie Rotze am Ärmel", sagt sie. "An guten Tagen kann man sich damit das Mittag finanzieren, aber ich spare immer und kaufe mir dann Fahrradteile." Hexe ist auch: Fahrradschrauberin. Deshalb die Ketten, deshalb das Öl an den Fingern. Sie baut Räder zusammen und mit den Rädern fährt sie durch Berlin. Immer auf der Suche. "Wenn man mit ihr unterwegs ist, kann es anstrengend werden. Sie kann an keinem Container, an keinem Mülleimer vorbeigehen", sagt die Frau hinterm Tresen. "Instinkt", sagt Hexe. Einen Moment lang: Schweigen. Dann: Auftritt Peter, früher da als sonst. Er, Charmeur, ganz altes Berlin, macht nun seine Aufwartung. Ein kurzer Tanz, eine Anbahnung auch. "Junge Frau", sagt Peter und verteilt, weil er das immer schon so gemacht hat, ein paar Komplimente. Schöne Ketten. Schönes Hemd. Hexe zieht ihr Hosenbein hoch. "Und, schau mal, schöne Socken. Rot wie die Linkspartei." Und plötzlich sind wir mittendrin im Wahlkampf, ganz kleine politische Runde. Peter und Hexe. "Ja, was wählen wir denn überhaupt jetzt?", fragt Peter, der mal schaut, auf diese Socken. Hexe richtet das Hosenbein und sagt, als hätte sie seit ihrer Ankunft mit dieser Frage gerechnet: "Ist doch klar: Die Grauen oder Johnny Depp."
Peter: "Johnny Depp?" Hexe: "Na, die Piraten. Protestwahl. Johnny Depp. Das schreibe ich denen auch fett auf den Zettel." Peter: "Und Steinbrück? Sollen wir den jetzt wählen?" Hexe: "Das sind doch alles Abzocker." Peter: "Ich habe nie wen abgezockt." Hexe: "Die ganze Politik ist doch Volksverarsche. Gysi hat gesagt, es gibt 1000 Euro für jeden Flaschensammler. Die Linke, neue Spaßpartei, oder was?" Peter: "Den nimmt doch auch keiner mehr ernst." Hexe: "Aber immerhin ist er mal auf einer Fahrraddemo mitgefahren." Peter: "Wie der Ströbele." Hexe: "Der ist ja auch so ein Fahrradmensch." Peter: "Ich leider nicht mehr. Bei mir sind Vorder- und Hinterrad kaputt. Jetzt steht das unten im Hausflur." Hexe: "Dann schaff es doch erst mal in die Wohnung." Peter: "Schwierig. Meine alte Dame ist 86 Jahre alt, die möchte keinen Schrott im Haus. Warum sie mich noch duldet, weiß ich nicht."
Peter lacht. Ist gut jetzt. Und genauso unvermittelt, wie es aufkam, ist das Thema Politik wieder abgehakt. Von den Socken zu Gysi zu Ströbele, zum Fahrrad, zu Peters Mutter in nicht mal 90 Sekunden. Eine halbe Zigarette. Peter und Hexe: Assoziationskettenraucher. Danach noch, ein paar Stunden lang, dieses und jenes: Reifendruck, die FDP, die Hexe nur "Gelbpisse" nennt, die Trümmerfrauen, auf die Peter unbedingt noch trinken will, "die haben Berlin hoch gehalten", und schließlich die Renten, die ja auch längst nicht mehr sicher sind. Als Hexe die Quelle verlässt, ihren Roller auseinanderklappt, entdeckt sie auf dem Stromkasten vor der Quelle eine Flasche, fast leer. Instinkt. Gießt den Spuckrest auf den Boden, steckt die Flasche in einen Beutel. Und fährt los.
Tag 3, 1. September 2013
"Ich tue mich schwer mit der kompletten Gleichstellung." Angela Merkel, Bundeskanzlerin
"Ich freue mich, dass es hier so fröhliche Menschen gibt." Lindsay, Transsexuelle _r
Viertel vor neun, am Abend. Hinter den Schultheißfenstern: Herbstdunkelheit. Seit einer Viertelstunde läuft da draußen das Fernsehduell. Merkel und Steinbrück, Stefan Raab, Anne Will, Maybrit Illner, Peter Klöppel. In der Quelle steht Lindsay, Frau im Männerkörper, Mann in Frauenkleidern, an der Jukebox, sitzt Zappa am Stammtisch, und der Oberst erzählt vom Krieg. Immer ein Thema. Zeitlos guter Geschichten-Katalysator. Der Oberst, den einige hier auch Major nennen, andere nur Ranger, weil er an besonderen Tagen in Uniform erscheint, Volkspolizei, Wehrmacht, oder auch mal Camouflage, trägt Schiebermütze, Anorak, einen Rucksack, als erwarte er, jeden Moment los zu müssen, und in der Hand ein grünes Plüschreh, dem er den Kopf abgerissen hat, Arme und Beine enden in weißen Puschelpfoten. Er nennt es "mein Molekül". Sein Gegenüber, Jürgen, ein Mann mit fliehendem Kinn, schütteren Haaren und nervösem Blick hört trotzdem genau zu. Stillgestanden, es spricht der Oberst. Zweiter Weltkrieg.
Oberst: "Was die Jungs da durchgemacht haben, Tag und Nacht, das kann man sich kaum vorstellen." Jürgen: Oberst: "Besonders bei der Sechsten." Jürgen: Oberst: "Die haben die ganze Armee aufgeraucht." Jürgen: Oberst: "Und den Rest mit der Mär vom neuen Deutschland verscheißert." Jürgen: "Du, ich glaube, ich muss los." Oberst: "Wieso. Musste in Krieg?" Jürgen: "Nein." Oberst: "Ich schon. Bin auf Abruf. Afghanistan. Mal sehen."
Jürgen legt einen Zehner auf den Tisch, geht, findet draußen seinen Frieden. Der Oberst rutscht zwei Stühle weiter, beginnt von Neuem. Zweiter Weltkrieg. Haltung annehmen. In der Ecke, Stammtisch, schüttelt Lindsay den Kopf. Alles Quatsch. Afghanistan, Quatsch. Oberst, Quatsch. "Sonst erzählt er auch immer, er war mal fünf Jahre mit Katja Ebstein verheiratet", sagt sie. "Ich dachte immer, der sei Tierarzt", sagt Zappa, der neben ihr sitzt und immer noch Zigaretten dreht. Zappa, weißer Restpferdeschwanz, Spitzbart, Baskenmütze, muss früher, das Haar länger, dunkler, der Bart mehr Oberlippe, tatsächlich einmal ausgesehen haben wie Frank Zappa. Den Namen haben ihm die Leute hier in Moabit vor einem Vierteljahrhundert verpasst. So lange her. Lindsay, das Kleid schwarz, die Augenlider rosa, toupierte Extravaganz, wippt im Takt der Musik. Ihrer Musik. Wenn sie kommt, gehört die Jukebox ihr. Das ist Gesetz in der Quelle. Lindsay kommt sonntags, und Sonntag ist Lindsay-Tag. Sie macht die beste Musik, sagen die anderen. Schnulzen hört sie gerne. Lindsay, sagen sie, unser Paradiesvogel. Die Quelle, klar, ist auch ihre Bühne. Heute spielt sie alten Sachen, Fats Domino und sagt: "Ich freue mich immer darüber, dass es hier so viele Menschen gibt, die einfach nur fröhlich sind." Lindsay, sagen die anderen, ist die Seele des Ladens. Große Sympathiebekundungen. Verlegene Lindsay. "Die Leute sagen auch immer, warum gehst du nicht in die Politik." Zappa, Blättchen in der Hand, ruckt aus seiner Konzentration, Tabak fällt auf den Boden. Lindsay, Politik. Jetzt ist was los.
Zappa: "Ach, du würdest dich aufrauchen in der Politik." Lindsay: "Ich versuche immer so ehrlich zu sein wie möglich." Zappa: "Das haben viele gemacht. Die haben sich engagiert und sind daran elendig zugrunde gegangen." Lindsay: "In der Politik musst du dich verbiegen." Zappa: "Ohne Ende." Lindsay: "Ich würd erst mal Gerechtigkeit fordern. Gerechtigkeit für jeden Menschen. Aber du verbiegst dich, und irgendwann geht das nicht mehr."
Lindsay denkt noch mal kurz nach, wischt dann den Gedanken einfach beiseite. Strich drunter. Keine Politik. Lieber Musik.
Tag 4, 2. September 2013
"Bei uns ist kein Platz für Fremdenfeindlichkeit." Angela Merkel, Bundeskanzlerin
"Nationalist und Nazi – da ist doch ein Unterschied." Ali, Tischler
Zehn Uhr morgens. Lindsay und der Oberst stehen noch immer am Tresen. Die Atmosphäre, sie ist die gleiche wie um 16 Uhr, um 21.30 Uhr. Ganz egal. In der Quelle ist es ständig ein Uhr nachts. Immer kurz vor Sperrstunde. Kurz vor dem Weg nach Hause, immer noch zwei Schnaps bis Feierabend. Eckkneipenprinzip des Versackens. Einfach dableiben und mit den anderen dieses Dableiben lautstark verhandeln. Gemeinsam dabei zusehen, wie sich die Zeit auflöst. Lindsay trinkt jetzt Kaffee, der Oberst presst sein Molekül an die Brust. Und, ja, erzählt einem älteren Türken am Tresen vom Krieg. In der Jukebox: Fats Domino. Draußen: Restsommer. Drinnen: Restrealität. Durch die geöffnete Tür kommt frische Luft, kommt jetzt auch: Udo. Bomberjacke, Picaldi-Jeans, Airmax. Wäre das hier ein Film, Udo müsste vom jungen Semmelrogge gespielt werden. Der Gang, 80er-Jahre-Lude, leicht in den Knien, das nach vorne gedrückte Aggro-Kinn, die weit aufgerissenen Augen, darin gleichermaßen Traurigkeit und Irrsinn. Obwohl Udo allein in die Quelle gekommen ist, wird man das Gefühl nicht los, dass er einen Pitbull an der Leine führt. Er setzt sich. Standard-Bestellung. Frühstücksbier. Sitzt jetzt Schulter an Schulter mit dem Türken. Der Oberst ist verschwunden. Einfach so. Weg. Die beiden Männer, sie trinken ihr Bier. Schweigend. Immer abwechselnd, bis Udo sich zur Seite dreht, den Türken leicht am Ärmel berührt, weil er es ganz offensichtlich nicht mehr aushält. Die Stille, sich selbst, das Dröhnen im Kopf: "Wer bist du denn?" Der Türke, gemütliches Gesicht, dichter, gräulich durchsetzter Schnauzer, dreht sich um: "Ali Ismael Yildirim." Er grinst.
Udo: "Aha, Ali, Yildirim." Ali: "Die Abkürzung davon ist Abi." Udo: "Abi heißt Bruder." Ali: "Na, siehste." Udo: "Alles Blödsinn. Ab jetzt heißt du Herbert. Herbert ist gut. Herbert heißt mein Vater. Können wir uns auf Herbert einigen? Dann wirst du mit großem Stolz von mir geehrt." Ali: "Abi." Udo: "Herbert." Ali: "Abi." Udo: "Herbert war als Soldat im Zweiten Weltkrieg und ich möchte nicht, dass man auf meinen Vater seinen Namen tritt. Das ist Ehrensache. Ich bin Nationalsozialist."
Ali schaut ihn kurz an, nicht abschätzig, nicht erschrocken. Ali, 30 Jahre in Deutschland, Tischler aus Anatolien, Vater zweier Söhne, führt hier jetzt eine durch und durch deutsche Debatte. Und findet nichts dabei. Trinkt sein Bier und schaut Udo, Augen glasig, Vorderzähne schwarz, einfach an. "Das ist so leicht dahingesagt. Nationalsozialist."
Udo: "Ist aber so. Ich bin ein Nazi." Ali: "Wieso schreist du denn so?" Udo: "Ich bin taub." Ali: "Ich glaube, du verstehst das nicht. Du bist doch kein Nazi, weil du für dein Land eintrittst." Udo: "Ihr seid bescheuert." Ali: "Wieso ihr? Es ist doch ein Unterschied zwischen Nationalist und Nationalsozialist." Udo: "Herbert, eine Demokratie heißt, jeden zu respektieren, auch, wenn er anderer Meinung ist. Und wenn ich jetzt sage, ich bin Nationalsozialist, muss man das in einer Demokratie auch respektieren." Er lehnt sich vor. Verstehst-du-Gestik. Es ist ihm wirklich ernst. Ali: "Udo, nicht umarmen." Udo: "Verzeihung. Nationalsozialismus ist eine politische Meinung." Ali: "Den Namen haben sich die Nazis selbst gegeben." Udo: "Das haben sie dir eingeschädelt in deinem Kopf." Ali: "Musst du dich schämen, weil du Deutscher bist?" Udo: "Muss ich mich schämen?" Ali: "Ich stelle hier die Fragen." Udo: "Hast recht, jemanden ausreden lassen, das ist auch Demokratie." Ali: "Nazi ist schon ein Schimpfwort." Udo: "Herbert, jetzt hör du mir mal zu." Ali: "Hör auf zu schreien." Udo: "Tschuldige, ich bin taub."
Da tritt der Oberst auf, er muss sich angeschlichen haben. Er steht nun direkt hinter Udo, legt ihm den Arm um den Hals. "Dich nehme ich mal mit ins Manöver, du hast Talent." Udo dreht sich aus der Umarmung, das will er nicht. "Ja, ja, zum Menschsein habe ich Talent." Er bestellt noch mal, drei Bier.
Ali: "Sind wir fertig jetzt?" Udo: "Nein." Ali: "Doch. Wir hören jetzt auf damit." Udo: "Lasst uns über Titten reden." Abi: "Hier sind auch junge Mädchen. Das heißt Brüschte." Udo: "Gut, Brüschte."
Sie stoßen an. Sind sich jetzt doch alle einig, haben ohne ein weiteres Wort eine Übereinkunft gefunden. Hinten sitzen noch zwei, Lindsay ist nicht mehr da. Ihre Musik ist geblieben. Alte Schnulzen. Noch zwölf Lieder.
Tag 5, 3. September 2013
„Wenn man Eierlikör anbietet, trinke ich glatt einen mit.“ Peer Steinbrück, Politiker
„Kein politisches Thema, wenn wir beim Bier sitzen.“ Maria, Stammgast
Peter ist wieder da. Zwei Tage hatte er sich nicht blicken lassen. Die Mutter, das Geld. Auch Peter ist seit beinahe zehn Jahren auf Hartz IV. Keine Zeit für Arbeit, sagt er. Er wohnt bei der Mutter, die er pflegt. Demenz, Diabetes. Und um die Nachbarinnen kümmert er sich auch. Da bleibt nicht genug übrig, um jeden Abend hierher zu kommen. Heute reicht es immerhin noch für zwei ordentliche Herrengedecke. Das kleine Schultheiß für 1,80, den Schnaps für 2 Euro. Ehrlicher Suff, ehrliche Preise. Die Jukebox spielt ein altes Ding von Grönemeyer. Peter hört kaum hin, in seinem Rücken aber, am Tisch direkt gegenüber der Theke, entfachen die ersten Takte eine lautstarke Diskussion. Dort sitzen Maria, Uwe und Zottel. Merkwürdige, wie zusammengestellt wirkende Feierabendrunde. Man kennt sich, traut sich aber nicht so richtig über den Weg. Der Grundton: giftig. Latente Aggression.
Maria: "Ah, hör mal. Der Grönemeyer ist geil. Der hat Texte. Und Meinung." Uwe: "Nee." Zottel: "Nee." Maria: "Hört da doch mal hin." Zottel: "Heinz Rudolf Kunze, das ist deutsch." Maria: "Der kommt aber nicht an Grönemeyer ran."
Sie werden sich nicht einig. Deshalb sagen sie nichts, gucken Ringe ins Bier, weichen den Blicken des jeweils anderen aus. Ohne Vorwarnung, als wäre er mit einem Mal aus einem bösen Traum geschreckt, knallt Uwe, wuchtig, die Ausländerfrage auf den Tisch. Einfach so. "Die Asylanten-Kinder", sagt Uwe, "die nehmen uns doch alles weg." In der Jukebox läuft längst nicht mehr Grönemeyer. Aber das hier ist jetzt deutsch. Hör doch mal hin. Der Text. Das ist, hatten wir in der Form auch noch nicht in dieser Woche, echte Stammtischparole. Uwe will über Ausländer reden. Deutschland den Deutschen. Aber Maria kracht in seinen nächsten Satz. "Uwe lass es sein. Kein politisches Thema in der Kneipe."
Uwe: "Aber, ich habe gesagt, ich sehe doch ..." Maria: "Uwe, nein, kein politisches Thema, wenn wir beim Bier sitzen."
Es ist dies, wusste man ja auch noch nicht, hier ehernes Gesetz. Ganz klare Ansage: "Kirche und Politik haben in der Kneipe nichts zu suchen", erklärt die Frau hinter der Theke, die sich das in Ruhe anschaut. "Das führt nur zu Konflikten. Sieht man doch." Dann poliert sie weiter ihre Gläser. Hier aber, am Tisch von Zottel, Maria und Uwe ist nicht mehr aufzuhalten, was einmal in Gang gesetzt wurde. Weil Uwe gar nicht daran denkt, sich an dieses Kneipengesetz zu halten. Uwe, ganz viel Wut, ganz viel Bürger: "Die Parteien interessiert das auch nicht. Das ganze Jahr sieht man sie nicht. Und plötzlich, kurz vor der Wahl, sind sie alle da." Dann verächtlich, fast rotzt er das Wort hin: "Bonzen." Maria nickt, Zustimmung, und beginnt einen dieser unwiderstehlichen Kneipenmonologe: "Sonntag stand Frau Högl von der SPD vor der Tür. Und am Montag gab es schön Kärtchen an jeder Klinke. Die kann sich was leisten, die SPD." Wahnsinnig gut gesetzte Kunstpause, Schluck Bier: "Andersherum war das von der CDU hier in Moabit auch mutig. Da haben die Plakate geklebt, auf denen steht: Wir beschaffen Ihnen Arbeitsplätze. Da hat einer draufgeschrieben: Ich habe schon drei und kann trotzdem nicht von leben. Mit der CDU braucht man in Moabit nicht rechnen. Und überhaupt, ich kann das jetzt mal sagen, ich habe die letzten Jahre immer die Merkel gewählt, aber nach diesem TV-Duell bekommt die von mir keine Stimme mehr. Keine einzige Stimme." Ende. Maria lehnt sich zurück. Das musste jetzt mal, bitte schön, genau so gesagt werden. "Oh, Mann", sagt Zottel, "ich gehe nie wieder in eine Kneipe." Was natürlich gelogen ist. Zehn Minuten später singt er ein Duett mit der Jukebox. Peter ist da längst wieder gegangen. Kneipe und kein Geld, das verträgt sich tatsächlich nicht.
Tag 6, 4. September 2013
"Wir werden weniger, wir werden älter." Angela Merkel, Bundeskanzlerin
"Manchmal kümmert sich der liebe Gott." Gabi, Schwester im Sterbehospiz
Tod und Fußball. Morgen spielt Hertha in Aue. Gestern Nacht ist wieder einer gestorben. Krebs. Am Stammtisch sitzen jetzt, früher Abend, Didi und seine Jungs. Andi, Micha, Herthafrösche, Fanklubmänner. Didi hat Geburtstag. An der Theke sitzen Gabi und René. Krankenschwester im Hospiz, Sozialarbeiter im Wohnsitzlosenheim. Gabi hat Nachtschicht. Kann sein, dass heute wieder einer geht. Das weiß sie vorher nie. Aber meist ist es besser, wenn es so endet. Über Nacht. Schnell. Ohne Schmerzen. "Manchmal kümmert sich der liebe Gott", sagt Gabi, rührt Zucker in ihren Tee. René drückt seine Zigarette aus.
René: "Ich bin Atheist." Gabi: "Manchmal ist es gut, an etwas zu glauben." René: "Da zahlst du nur umsonst Kirchensteuer." Gabi: "Es hilft." René: "Gott, wenn es den gibt, will kein Geld von dir." Gabi: "Bei meinen alten Leutchen." René: "Ich hatte letztens einen mit einer Überdosis." Gabi: "Der liebe Herrgott." René: "Hör auf jetzt."
Er leert das Glas. Feierabend, sagt er. Ab ins Bett. Gabi muss auch gleich los. Hinten gibt Didi, seit Neuestem 53, noch eine Runde aus. Heute hat er gute Laune, heute heiratet er die Frau hinter der Theke. "Na, wohl kaum", sagt die. Empörung. "Bin ich dir nicht schön genug", fragt er, zeigt sein Profil, die etwas zu große Nase. Micha und Andi lachen. Sie stellt ihnen drei Bier hin: "Ihr seid wieder jut druff heute, wa?"
Micha: "Ein Sieg gegen Stuttgart, dann ist wirklich alles gut." Andi: "Wo wir abgestiegen sind, hatten wir zur Pause auch schon 20 Punkte." Micha: "Wir hätten doch in Wolfsburg auch nicht verlieren müssen, wenn Ramos den nicht tippen lässt." Didi: "Den hätte der Horst Hrubesch so rinjeköppt."
Das ist jetzt hier: Expertenrunde. Doppelpass, Fußballstammtisch. Damit, Rasenphilosophie, kann man eigentlich ganze Nächte zubringen. Hat Didi aber, an seinem Geburtstag, keine Lust drauf. Nervt alles. Er stemmt sich aus den Polstern. Angestrengt. Älter werden ist ja immer mit älter werden verbunden. Micha kommt mit, muss auch noch weiter, einkaufen, das Übliche.
Micha: "Wir sehen uns noch." Andi: "Rechneste mit Wiedergeburt?" Micha: "Spätestens gegen Stuttgart."
Didi und Micha treten aus der Tür, zum Abschied einen Handkuss für die Frau hinter der Theke, Engelchen, Schatzi, und lassen neben Andi auch die Erkenntnis zurück, dass in der Kneipe alles ähnlich wichtig oder unwichtig ist. Hospiz, Wildschwein-Gulasch, Hertha BSC, Gregor Gysi, Andrea Berg. Alles wird gleichberechtigt weggeredet, hängt hier für einen Moment unter der Decke, eine große Gesprächswolke, die aber schon mit dem nächsten fliegenden Gedanken vergeht. Es bleibt: Nichts. Gesunde Leere. Die Tränen der Trinker, sie sind ohne Geschmack.
Tag 7, 5. September 2013
"Für viele Menschen ist die Lage nicht gut." Jürgen Trittin, Spitzenkandidat
"Sehe ich aus wie die Bank von England? Ich bin pleite." Anonym, Gast in der Quelle
Das Geld ist weg. Es ist jetzt, Donnerstag, nichts mehr übrig. Wie es die Frau hinter der Theke am Freitag vorausgesagt hatte. Sie steht am Zapfhahn und hat nicht viel zu tun. Die Quelle ist leidlich gefüllt. Drei Männer am Tresen sitzen einfach da und starren. Machen das schon einige Zeit. Sitzen und starren. Wichtig ist ja, Kneipenfolklore, dass eben auch mal einfach überhaupt nicht gesprochen wird. Die Jukebox schweigt ebenfalls. Und als der Rosenverkäufer an diesem Abend wieder in die Kneipe tritt, den ganzen Strauß noch in der Hand, begegnen ihm die Männer mit Ablehnung. "Bloß kein Grünzeug, ich habe schon gegessen!" - "Sehe ich aus wie die Bank von England? Ich bin pleite." Der Rosenverkäufer steht da, wartet, den Strauß in der Hand. Ein schlechtes Gewissen, Fleisch geworden. Ein Geldzähler. Eine Provokation. Nicht zu ertragen. "Nein heißt nein!" Er geht. Nicht mal für Rosen reicht es noch. In der Vase am Ende des Tresens stehen heute nur noch zwei, kaum noch Blätter am Stiel.
Später, die Stunden vorgerückt, hat Jörg kein Glück beim Würfeln, gibt Iris, dritter Platz beim Dart, einen aus, will Peter nur kurz bleiben, bleibt aber, natürlich, lang. Immer dasselbe. Ein Spiel. Ein Zeitvertreib. Bis sie im Morgengrauen nach Hause gehen. Am Sonntag werden sie alle wiederkommen, ihr Kreuz machen. Am Sonntag wird in der Quelle Bingo gespielt.
Lucas Vogelsang