Tumorkonferenzen: Das virtuelle Krankenbett
Krebspatienten, deren Fall in einer Tumorkonferenz besprochen wird, haben Glück. Hier suchen Ärzte nach der besten Therapie für sie. Protokoll eines Besuchs in Neukölln.
„Als Nächstes Nummer 15. Da ist die Frage, ob die Patho fertig ist.“ „Noch nicht.“ „Dann haben wir Nummer 20.“ Hinter der unscheinbaren Tür mit der Aufschrift „Hörsaal“ geht es um Menschenleben. Und zwar um viele, den ganzen Nachmittag lang. Nummer 15 und Nummer 20 sind Tumorpatienten. Keiner von ihnen ist persönlich anwesend, stattdessen sind rund ein Dutzend Mediziner bei der Interdisziplinären Tumorkonferenz im Vivantes Klinikum Neukölln versammelt. Tumorkonferenzen sind inzwischen in den meisten Krankenhäusern, die Krebspatienten behandeln, üblich. Allein in den Berliner Vivantes-Kliniken fanden 2015 fast 500 statt, Tendenz steigend. In Neukölln ist es an diesem Tag schon die zweite. Bei einer solchen Konferenz planen Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam die Behandlung bei bösartigen Erkrankungen. Das können außer Onkologen auch Chirurgen, Gynäkologen und Urologen sein, Radiologen, Strahlentherapeuten und Pathologen.
Wer ein solches Treffen zum ersten Mal erlebt und kein Mediziner ist, versteht wenig. Diskutiert wird in einer eigenen Sprache aus Fachbegriffen und Abkürzungen wie „PET/CT“, „Patho“, „Histo“, „metastasenverdächtige Läsionen“, „Teratom“, „AFP und Beta-HCG müssen noch bestimmt werden“. Wenn man glaubt, halbwegs verstanden zu haben, worum es gehen könnte, sind die Ärzte schon fast mit dem nächsten Patienten durch. Zugegeben, den Mini-Dialog über Nummer 15 und Nummer 20 aus dem Zusammenhang zu reißen und an den Anfang dieses Textes zu stellen, ist ein wenig unfair den Ärzten gegenüber. Sie versuchen die richtige Diagnose und die beste Behandlung herauszufinden. Aber es gibt doch einen Eindruck davon, unter welchem Hochdruck die Liste abgearbeitet wird, auf der auch Patienten aus Kliniken außerhalb Berlins stehen. Die meisten aber nennen die Ärzte beim Namen und schenken ihnen mehr Aufmerksamkeit als der Nummer 15 an diesem Nachmittag, die erst zwei Arbeitstage zuvor operiert wurde. An einem anderen Tag wird auch dieser Fall noch einmal ausführlich besprochen.
Die Atmosphäre: manchmal locker, manchmal angespannt
Im Hörsaal herrscht eine merkwürdige Atmosphäre, manchmal locker und fast familiär, oft aber auch angespannt und konzentriert. Irgendwo zwischen Team- Meeting, Uniseminar und Gerichtsverhandlung. Die Sitzordnung erschließt sich auf den ersten Blick: Ganz hinten, mit dem Rücken am Fenster, nehmen Medizinstudenten und Assistenzärzte Platz, sie sind nur zum Zuhören und zur Weiterbildung dabei. In der Mitte sitzen die behandelnden Ärzte auf hölzernen Seminarraumstühlen und tragen ihre Fälle vor wie Staatsanwälte dem Richter. Und an einem L-förmig zusammengestellten Tischensemble mit dem Rücken zu den Wänden sitzen Maike de Wit, Chefärztin der Onkologie im Klinikum Neukölln, die die Tumorkonferenz leitet, sowie die Pathologie- und Radiologie-Spezialisten. De Wit sitzt dem „Publikum“ gegenüber, Chefpathologe Hermann Herbst und Radiologin Anja Reimann mit Blick auf ihre Profile.
Vor Hermann Herbst, der eine zierliche Goldrandbrille trägt, steht ein Mikroskop. Dadurch kann er Gewebeproben der Patienten sehen, die „Patho“ oder „Histo“ werden an die Wand projiziert – direkt neben die Röntgenaufnahme des betroffenen Organs. Oft sehen sich die Mediziner sogar mehrere Organe nacheinander an. Immer wieder wird auch ein sogenanntes PET/CT projiziert, ein Fusionsbild aus zwei unterschiedlichen bildgebenden Untersuchungsverfahren: der Positronen- Emissions-Tomografie (PET) und der Computer-Tomografie (CT). Doch oft entscheiden die Ärzte erst in der Konferenz, ob so ein Bild überhaupt gemacht werden soll. Pathologe Herbst sagt Dinge wie: „Da ist der Tumor“ und bewegt den Curser- Pfeil auf der Projektion hin und her. Zu sehen ist eine Vergrößerung der Zellen des betroffenen Organs. Laien sehen hier nur ein abstraktes Kunstwerk.
Auf den Tischen, die die lange Seite des L bilden, stehen so viele Monitore, dass man erst gar nicht zuordnen kann, welche davon nun zu Herbst, zur Radiologin Reimann mit der roten Brille oder zur Assistentin gehören. Reimann misst zum Beispiel die Größe eines Tumors auf Aufnahmen von verschiedenen Untersuchungstagen, um festzustellen, ob der Tumor gewachsen ist. Die Assistentin notiert gewissenhaft, was De Wit und die anderen Ärzte über die Patienten sagen – in einem virtuellen Krankenblatt, das ebenfalls an die Wand projiziert wird. Der ganze Saal wird zu einem interaktiven 3-D-Krankenblatt des jeweiligen Patienten.
Chefärztin Maike de Wit ist auf jeden Einzelfall gut vorbereitet
Schnell wird klar, dass Chefärztin De Wit alle Fälle vor der Konferenz sorgfältig durchgearbeitet hat, sie kennt fast jedes Detail. Manchmal fragt sie aber doch nach. Gerade geht es um einen Patienten, der Schmerzen in den Hoden, aber vor allem einen Lungentumor hat.
De Wit: „Ist die Schilddrüse irgendwo?“
Reimann: „Ist unauffällig.“
De Wit: „Es kann ja auch mal sein, dass es ein Teratokarzinom ist.“
Herbst: „Da steht man erst mal auf dem Schlauch, deshalb haben wir die Immunologie zur Hilfe geholt. Wir mutmaßen, dass es ein Teratom sein könnte.“
De Wit diktiert der Assistentin: „Verdacht auf Teratom, operative Entfernung empfohlen, schreiben Sie das. Sind alle einverstanden?“ Ihre Worte erscheinen auf der Projektion des Krankenblatts. Ein Teratom ist ein Keimzelltumor, dessen bösartige Form Teratokarzinom genannt wird. Ein Arzt, der bereits alle Fälle vorgestellt hat, verlässt leise den Raum, während es ohne Pause weitergeht. Kurz darauf kommt ein anderer fast geräuschlos herein, zieht seinen Kittel aus und setzt sich neben einen Mann im grün-karierten Hemd. Der trägt gerade einen Fall nach dem nächsten vor. Es ist Stephan Eggeling, Leiter im Vivantes Lungenkrebszentrum und Chefarzt der Klinik für Thoraxchirurgie. Beim nächsten Patienten sei „die Frage, ob irgendwelche Tiere drin sind, also Bakterien. Und ob wir ein PET/CT machen wollen.“
Alle blicken gespannt auf die Bilder der Magnetresonanztomografie, kurz MRT, der Lunge des Patienten an der Wand: „Aber da sind doch Metastasen“, sagt De Wit. „Nein, ich bin mir gar nicht so sicher, dass es überhaupt Krebs ist. Es könnte auch ein Entzündung sein. Ich find’s auch schwierig“, erwidert Eggeling. De Wit: „Wir haben doch auch noch ein Abdomen.“ Reimann: „Nur von 2014.“ De Wit: „Dann machen wir gleich ein PET/CT“.
Schnell, aber gründlich
Ein Patient folgt auf den nächsten. Schnell, aber gründlich. Mal geht es darum, ob ein Tumor postoperativ noch bestrahlt werden soll. „Lieber safe als sorry“, entscheidet De Wit. Auch bei einem „Zweit-Karzinom“ schlägt sie nach einer kurzen Besprechung eine Chemotherapie vor. „Gibt es sonst noch Meinungen? Das ist eine Kann-Option.“ Als niemand Einspruch erhebt, diktiert sie der Assistentin: „Die Tumorkonferenz befürwortet eine adjuvante Chemotherapie.“ Nachdem sie sich bei einem weiteren Patienten die Lymphknoten angesehen haben, sagt De Wit: „Wir haben keinen Tumornachweis, trotzdem bin ich dafür, dass wir dieses kleine Ding da entfernen.“ Im Diktat für die Assistentin klingt das dann so: „Entfernung des Herdes S6 rechts, wenn es sich um ein Karzinom handelt.“
Schließlich kommen sie zu jenem Fall, an dem man besonders gut sehen kann, warum eine Tumorkonferenz eine gute Idee ist. Zunächst diskutieren die Ärzte relativ lange darüber, was auf den Projektionen eigentlich zu sehen ist. Reimann spricht von einem Lymphom, De Wit von einem Lungenkarzinom. Nach einigem Hin und Her stellt De Wit fest: „Der hat zwei Sachen.“ Ein behandelnde Arzt sagt mit einem skeptischen Unterton: „O.k.?“ Seine Stimme geht am Ende des Wortes in die Höhe wie bei einer Frage. De Wit erklärt ihre Diagnose. Wieder sagt der Arzt: „O.k.“ Dieses Mal klingt es schon etwas akzeptierender. „Das ist nicht alles Lungenkarzinom“, setzt De Wit noch einmal nach. „Dann wäre er anders krank.“ Eggeling: „Aber in der Milz könnte trotzdem ein Karzinom sein.“ De Wit und Reimann im Chor: „Es könnte ein Lymphom sein.“ Der Arzt bringt Einwände gegen eine Operation vor. De Wit: „Da würde ich ein PET/CT und ein MRT der BWS machen.“ BWS ist die Abkürzung der Mediziner für Brustwirbelsäule. Wieder sagt der behandelnde Arzt: „O.k.“ Dieses Mal klingt es neutral. „Der liegt jetzt noch stationär.“
De Wit will noch wissen: „Wie sind denn die Blutwerte?“ Das weiß Radiologin Reimann ganz genau. De Wit wiederholt: „Der hat zwei Sachen, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.“ Der behandelnde Arzt scherzt: „Sie haben ja nur zwei, dann glaube ich ihnen das.“ Alle lachen kurz, dann ist der nächste Patient dran. Und noch einer und noch einer. Und wenn diese Konferenz nach vielen Stunden vorbei ist, steht die nächste schon im Terminkalender.
Daniela Martens