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Berlin: Das Verfahren

Applaus der Familie, Unverständnis im Saal. Der letzte Prozesstag im Fall Sürücü

Auf diesen Applaus hätte er gerne verzichtet. Mit gequältem Gesicht steht Richter Michael Degreif da und beobachtet, wie hinten auf den Zuschauerbänken die Freunde und Verwandten der Sürücü-Familie jubeln, sie lachen, klatschen und winken den drei Angeklagten in ihrem Panzerglaskasten zu. Auch Ayhan Sürücü lächelt erleichtert, dabei hat das Gericht den 20-Jährigen gerade wegen Mordes fast zur Höchststrafe verurteilt. Neun Jahre und drei Monate Gefängnis. „So, jetzt ist aber Ruhe!“, brüllt der Wachtmeister durch den Saal.

Was für eine Aufgabe. Richter Degreif weiß, was die meisten Menschen im Land von ihm erwartet haben: die volle Härte der Justiz. Und jetzt steht er da und muss erklären, weshalb das Berliner Landgericht Alpaslan und Mutlu Sürücü, 25 und 26 Jahre alt, freilässt. In aller Frühe, kurz nach dem Aufstehen, hat Degreif die Politiker im Fernsehen beobachtet, wie sie in Interviews nach „drastischen Strafen“ und „klaren Signalen“ riefen. „Da ist man ein Stück weit fassungslos“, sagt Degreif im dicht gedrängten Saal. So klingt es, wenn dieser ernste, ruhige, beinahe phlegmatisch wirkende Mann wütend ist.

Während sich die einen im Gerichtssaal freuen, wirkt die anderen geschockt. Michael Degreif schaut kurz hoch, atmet durch. Dann spricht der Kammervorsitzende fast zwei Stunden lang, erklärt seine unpopuläre Entscheidung, entwirft Bilder von Brücken, die so wacklig waren, dass sie nicht zu einer Verurteilung führen konnten, und zählt auf, „was wir alles nicht hatten“: die Mordwaffe, Fingerabdrücke, eine DNA-Spur, Augenzeugen …

Die drei Brüder, die auf ihrer Anklagebank in den vergangenen Monaten so oft ausgerastet sind, Publikum, Zeugen und Ankläger beschimpfte haben, scheint Degreif mit seinem Vortrag in Trance zu versetzen. Mutlu Sürücü lässt seine langen Haare über das Gesicht fallen und blickt zu Boden, in der Hand hält er eine Gebetskette. Alpaslan Sürücü, der mit seinen frisch geschnittenen Haaren und seiner runden Brille wie ein Student aussieht, faltet erst ein Papier auf Millimetergröße zusammen, dann scheint auch er zu beten. Nur Ayhan, der Jüngste, schaut sich im Saal um, kritzelt Notizen, wackelt mit dem Knie.

Ein letztes Mal beschwört der Richter die Bilder des Mordes, der damals in ganz Deutschland Aufsehen erregte, herauf. Es war der 7. Februar 2005, als drei Pistolenschüsse durch den Abend an der Tempelhofer Oberlandstraße peitschten. Die Deutsch-Türkin Hatun Sürücü starb, dreimal im Kopf getroffen, noch auf dem Pflaster. In der Hand der 23-Jährigen verglühte langsam eine Zigarette. Diese „lebenslustige junge Frau“, sagt Degreif, musste sterben – „weil sie ihr Leben lebte, so wie sie es für richtig hielt“.

Hatun Sürücü war die Tochter eines türkischen Einwanderers, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg. „In der Familie Sürücü lebte man wohl nicht wirklich in Deutschland“, sagt der Richter. Bis heute spricht das Ehepaar nur Türkisch, wenn der 64-jährige Gärtnergehilfe den Deutschen etwas zu sagen hat, dolmetscht eins seiner neun Kinder. Ihre Tochter Hatun nehmen die Eltern mit 15 vom Gymnasium und verheiraten sie mit einem Cousin in der Türkei. Aber als sie 1999 in Berlin ihren Sohn Can auf die Welt bringt, weigert sie sich, wieder in die Türkei zurückzukehren. Hatun legt den Schleier ab, sucht sich ihre Freunde fortan selber aus, nimmt sich eine Wohnung und beginnt eine Lehre als Elektromechanikerin. „Ein riesiger, ein mutiger Schritt“, sagt Degreif.

Offenbar zu groß für Hatuns Familie aus der kurdischen Provinz Erzurum, in der fünfmal täglich nach sunnitischem Ritus gebetet wird. Die Polizei hegt damals gleich den Verdacht, dass ein Familienrat die Hinrichtung der Abtrünnigen beschlossen hatte – beweisen konnte sie es nicht. Und vermutlich wären die Ermittlungen ins Leere gelaufen, wäre da nicht Melek A., die damalige Freundin von Ayhan: Das 18-jährige Mädchen mit dem langen braunen Haar brach das Schweigen und berichtete der Polizei von einem Mordkomplott der Brüder: Mutlu habe die Pistole besorgt, Alpaslan Schmiere gestanden, Ayhan geschossen – so hatte es jedenfalls der jüngste Bruder seiner Freundin erzählt.

Doch am ersten Prozesstag im vergangenen September verkündete Ayhan Sürücü: „Ich habe meine Schwester getötet, ich habe die Tat allein begangen, niemand hat mir geholfen.“ Er habe schon lange an Mord gedacht, hieß es im Geständnis, weil er Hatuns „Lebensführung missbilligte“, – und in der Nacht nach dem Mord habe er endlich wieder gut geschlafen.

Alles hing im Prozess an Melek, mit schusssicherer Weste und drei Bodyguards kam sie ins Gericht. Mit der Hauptzeugin, sagt Richter Degreif, habe das Gericht aber so seine Probleme gehabt. Weil Melek eben nur eine Zeugin vom Hörensagen war, weil ihr manches erst nach Tagen einfiel und sie auf Fragen oft mit „ich weiß nicht“, „irgendwie“ oder „ich kann mich nicht erinnern“ antwortete.

Der Richter redet und redet – da hat sich die Nachricht vom Freispruch schon in Berlin herumgesprochen. Im Kriminalgericht Moabit stehen die Telefone nicht still, weil aufgebrachte Bürger sich über das Urteil beschweren. Jeder scheint sich erklären zu wollen: die Parteien, türkische Frauenvereine, Migrantenverbände, Ausländerbeauftragte, Europaabgeordnete, die Polizeigewerkschaft …

Degreif hat den Wirbel kommen sehen und vielleicht seinen Beruf verflucht, als er morgens die Robe überzog. Denn Zweifel bleiben: Bis zum letzten Tag, sagt Degreif, konnte auch das Szenario des Staatsanwalts nicht „weggewischt“ werden, alle drei Angeklagten könnten also des gemeinsamen Mordes schuldig sein, nur: „Wegen einer Möglichkeit wird niemand verurteilt.“ Wenig später treten Mutlu und Alpaslan Sürücü nebenan aus dem Gefängnistor. Sie werden von zwei ihrer Schwestern erwartet, die Kopftuch tragen und die Finger zum Victory-Zeichen erheben. Der Staatsanwalt hat da Revision eingelegt. Gegen alle drei Urteile.

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