Berlins Verkehrstote: Das Unrecht der Stärkeren
Die wachsende Stadt muss sich auf mehr Kinder und mehr Ältere im Verkehr einstellen – mit fußgängerfreundlichen Ampelschaltungen und zeitweisen Durchfahrtssperren vor Schulen. Ja, das bedeutet Entschleunigung. Ein Kommentar.
Sie halten sich immer noch für gute Autofahrer. Dabei starb bei ihrem illegalen Rennen ein Mensch. Tötungsabsicht kann der Anwalt eines Rasers, über den am Montag das Urteil gesprochen wird, aber nicht erkennen. Selber schuld, wer Rasern in die Quere kommt, heißt das wohl – und bislang gelten illegale Autorennen als Ordnungswidrigkeit. Es ist ein aufschlussreicher Blick in die Psyche der Raser, der sich vor Gericht bietet. Es trägt auch zum Verständnis bei, was auf Berlins Straßen schief läuft und warum die Stadt eine Verkehrswende benötigt.
In Deutschland, so die gute Nachricht, starben 2016 so wenig Menschen wie seit 60 Jahren nicht; um sieben Prozent ging es runter. Ganz gegen den Trend nahm dagegen in Berlin die Zahl der Getöteten um fast 17 Prozent auf 56 zu. Es sind die schwachen Verkehrsteilnehmer, die Opfer wurden. Siebzig Prozent waren zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und die Hälfte der Toten waren Senioren.
Überrascht sein sollte niemand über die Bilanz. Berlin wächst – und damit der Verkehr; in den letzten Jahren hat die Zahl der Autos um 100.000 auf knapp 1,2 Millionen zugenommen, zudem steigen immer mehr Menschen auf das Rad um. Vor allem aber geht es auf den Straßen immer brutaler und rücksichtsloser zu. Wer Tempo 50 fährt oder an Ampeln bei Spätgelb anhält, wird als Verkehrshindernis wütend angehupt, vor Schulen werden Kinder einfach ignoriert und wer aus der Tram steigt, muss springen, weil Autos den Haltestellenbereich ignorieren.
Darwinismus des Stärkeren
Von ungefähr kommt das nicht. Die bisherige Verkehrspolitik hat einen brutalen Darwinismus der Stärkeren begünstigt: Grüne Abbiegepfeile an Ampeln, die Autofahrer als Vorrang vor bei Grün querenden Fußgängern interpretieren, oder extrem kurze Ampelphasen, die alte Menschen gefährden, weil der Verkehrslenkung die Stauvermeidung wichtiger ist. Lkw-Fahrer wiederum kommen mit Geldstrafen davon, wenn sie einen Radler totfahren. Und die Polizei geht kaum gegen Falschparker in der zweiten Reihe vor.
Viele scheinen nicht zu wissen, wie gut es sich anfühlt als stärkerer Verkehrsteilnehmer Rücksicht auf den jeweils Schwächeren bzw. Langsameren zu nehmen. Ein Lächeln auf dem Gesicht eines dankbaren Langsamen ist viel schöner als der Kick an der Ampel schneller angefahren zu sein[…].
schreibt NutzerIn Hasibaer
Es geht anders. In Brandenburg, viele Jahre weit vorn in der Schreckensstatistik, ging die Zahl der Toten um fast ein Drittel runter. Dazu haben die Leitplanken auf den Alleen beigetragen, aber auch der konsequente Einsatz mobiler Blitzer. Das wirkt offenbar. In Berlin, wo stationäre Blitzer jedem Raser bekannt sind, wird dagegen kaum mobil geblitzt.
Wer von Umerziehungswahn und verkehrspolitischem Irrsinn spricht, weil ein grüner Staatssekretär an Hauptverkehrsstraßen eine Spur für Radler umwidmen will, hat nicht begriffen, dass es nicht um schwarze Pädagogik geht, sondern um Menschenleben. Nicht ein Krieg gegen Autofahrer, sondern ein verändertes Nutzerverhalten erzwingen eine Neuverteilung des begrenzten Straßenraums und einen Ausbau des Nahverkehrs. Aber es braucht dazu vor allem ein Umdenken. Die wachsende Stadt muss sich auf mehr Kinder und mehr Ältere im Verkehr einstellen – mit fußgängerfreundlichen Ampelschaltungen, deutlich mehr Zebrastreifen und zeitweisen Durchfahrtssperren vor Schulen. Ja, das bedeutet Entschleunigung. Aber eine dringend notwendige Kultur der Rücksichtnahme kann sich nur entwickeln, wenn nicht mehr Vorrang für die Stärksten gilt. Bis ein neues Miteinander akzeptiert wird, braucht es auch demonstrative Härte – gegen Falschparker, gegen Raser, gegen Drängler. Und Richter, die tödlich endende illegale Autorennen auch als Mordversuch werten.