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Ernährungsberatung in der diabetologischen Reha – hier in einer anderen Klinik als der von May-Britt Niecke.
©  Kitty Kleist-Heinrich

Rehabilitation für Diabetiker: Das Leben neu lernen

Auch Diabetiker haben Anpruch auf eine Reha. Das kann eine sehr sinnvolle Maßnahme sein - weil die temporäre Freiheit vom Alltag hilft, mit der Krankheit besser umzugehen. Ein Gespräch mit einer Expertin.

Frau Niecke, es gibt zahlreiche und auch langfristige ambulante Behandlungsangebote für Diabetespatienten. Wozu braucht es daneben noch eine diabetologische Reha?

Im Vergleich zu einer ambulanten Behandlung verlassen unsere Patienten für drei Wochen ihre gewohnte Umgebung und können Abstand gewinnen zu Familie, Beruf und anderen Belastungen, von denen sie sich überfordert fühlen. Sie sind schließlich jeden Tag mit den Komplikationen, Folgeschäden und Therapieerfordernissen ihres Diabetes konfrontiert. Das ist ein hoher psychischer Druck, der sich außerhalb des Alltags besser bewältigen lässt. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir hier alle Professionen, die für die Therapie erforderlich sind, unter einem Dach haben und auf kurzem Weg alles verordnen können: Physiotherapie, Ernährungstherapie, psychologische Beratung, Diabetesschulung oder Entspannungstherapie. Wir arbeiten als Team und tauschen uns aus. So können wir die bestmöglichen Behandlungsergebnisse erzielen.

Ist die Betreuung dadurch intensiver als bei einer ambulanten Versorgung?

Ja, wenn ein Patient zum Beispiel ein Glukosemesssystem gelegt bekommt, lesen wir die Daten täglich aus und besprechen mit ihm, warum der Wert zu einer bestimmten Zeit zu hoch oder zu niedrig war. Die Patienten lernen so kontinuierlich, wie sie etwas besser machen können. Und wenn in den Abend- und Nachtstunden mal Probleme auftreten, ist Pflegepersonal als Ansprechpartner da. Zu Hause sind die Patienten auf sich alleine gestellt, wodurch Unsicherheit und Ängste entstehen können. Hier erarbeiten wir die Sicherheit für den Alltag.

Hat denn jeder Diabetiker einen Anspruch auf eine Reha?

Diabetespatienten haben wie andere Patienten nach dem Sozialgesetzbuch alle vier Jahre Anspruch auf eine Reha. Verschlechtert sich ihr Zustand gravierend, können sie früher einen neuen Antrag stellen, der in der Regel bewilligt wird. Bei einer Neuerkrankung, wenn sofort behandelt werden muss, oder nach einer akuten Stoffwechseldekompensation, wenn ein Patient etwa mit dem Rettungswagen zu Hause bewusstlos abgeholt wird und in die Klinik kommt, gibt es ein verkürztes Antragsverfahren, das der Sozialdienst des behandelnden Krankenhauses als Anschlussrehabilitation einleitet.

Wie sieht denn der Tag eines Patienten in der diabetologischen Reha aus?

Es gibt kein einheitliches Programm, Rehapläne werden individuell besprochen. Wichtiger Bestandteil ist die Diabetesschulung, zu der Blutdruck- und Gelenkschulungen hinzukommen können. Die Patienten gehen zur Sozialberatung und bekommen eine psychologische Betreuung in Einzelsitzungen und Krankheitsbewältigungsgruppen. In der Ernährungstherapie beraten wir sie, welche Lebensmittel sie ersetzen sollten. In der Lehrküche wird die Theorie praktisch umgesetzt und unter Anleitung einer Diätassistentin ein Mittagsmenü zubereitet. Dazu kommen Sport und Physiotherapie mit einem individuellen Trainingsprogramm, bei dem wir Herzfrequenz, Blutdruck und Blutzuckerwert überwachen.

Das klingt nach intensivem Lernprozess ...

In der Tat, aber unsere Schulungen sind ausschließlich interaktiv, es ist also kein Frontalunterricht. Unsere Diabetesberaterinnen haben zwei tolle Schulungsbücher geschrieben, die auch Raum für individuelle Ergänzungen lassen: Was ist speziell für mich notwendig? Welche Ziele habe ich? Wie komme ich dahin? Zusätzlich gibt es täglich Einzelberatungen, bei denen offene Fragen geklärt werden, gerade Insulinpumpenpatienten haben einen sehr hohen Beratungsbedarf. Das können ambulante Praxen so kaum anbieten.

May-Britt Niecke
May-Britt Niecke
©  Promo

Ernährung ist ein erheblicher Risikofaktor für Diabetes. Beobachten Sie bei Ihren Patienten bedenkliche Essgewohnheiten?

Vielen ist längst klar, was sie besser machen können, aber sie schaffen es nicht. Das liegt am beruflichen Stress, etwa bei Schichtarbeitern oder Kraftfahrern. Wenn sie nach vielen Stunden einen Schlafplatz auf einem Parkplatz finden, denken sie nicht mehr an Sport oder gesundes Essen, dann gibt es halt die Currywurst mit Pommes. Für viele ist eine Ernährungsumstellung äußerst schwierig in den Alltag zu integrieren, die Gewohnheiten sitzen zu fest.

Wird denn genug für die Prävention getan?

Da hat die Gesellschaft noch eine riesige Aufgabe vor sich. Wir müssten in Kindergärten gehen und gesundes Essen vermitteln. In der Schule sollten wir Motivation für den Sport fördern, gerade bei denen, die nicht so sportlich sind. Wenn der Lehrer eine 4 oder 5 gibt, entmutigt sie das eher noch mehr. Stattdessen sollte es um Bewegungsförderung gehen.

Plädieren Sie dafür, auf besonders zuckerhaltigen Lebensmitteln abschreckende Bilder, wie auf Zigarettenpackungen üblich, zu drucken, zum Beispiel diabetischer Füße?

Nein, die Raucher rauchen ja trotzdem weiter. Ich glaube, das würde nicht funktionieren und wir wollen den Zucker auch nicht verteufeln. Er gehört zum Leben dazu, auch wenn einige Ernährungswissenschaftler sagen, dass wir Zucker in Reinform nicht brauchen. Mit einem Verbot kann man die Bevölkerung nicht erziehen, nur mit Aufklärung. Für mich bedeutet Prävention Kampf gegen Risikofaktoren, also gegen Bluthochdruck, Stress, Übergewicht, Bewegungsmangel, fettreiche Ernährung, Schlafmangel.

Kommen zu Ihnen auch Patienten mit Folgeerkrankungen eines Diabetes?

Retinopathie, Nephropathie oder Neuropathie, also krankhafte Veränderungen an Augen, Nieren und Nerven, sehen wir häufig. Spezialisiert sind wir auf die Wundbehandlung des diabetischen Fußes. Unsere Patienten sind überrascht, wenn wir zu Beginn der Reha jeden Zeh genau untersuchen. Das ist enorm wichtig, denn Amputationen wegen Diabetes sind häufiger als Amputationen in Folge von Unfällen. Mit einer konsequenten Stoffwechselführung kann man vorbeugen. Wir haben ausgebildete Wundmanagerinnen, die mit einem orthopädischen Schuhmacher zusammenarbeiten. Wenn die Patienten nach Hause geschickt werden, bekommen sie ein Wundüberleitungsprotokoll für den Hausarzt mit, damit die Versorgung ambulant nahtlos fortgeführt werden kann.

Wer die Diagnose Diabetes bekommt, hat keine Aussicht auf Heilung. Wirkt sich das auf die Motivation Ihrer Patienten aus?

Krankheitsakzeptanz ist ein wichtiger Teil unserer psychologischen Betreuung. Dem Patienten muss klarwerden: Ich habe jetzt den Diabetes und ich werde ihn nicht mehr los, er sitzt mit mir jeden Tag am Tisch und geht mit mir auch ins Bett. Viele sagen zuerst: Das will ich nicht, ich will ihn loswerden! Und das ist verständlich. Wir loben unsere Patienten immer wieder für kleine Schritte, besprechen, was sie noch besser machen können, und fragen, ob sie mit ihren Erfolgen zufrieden sind.

Wann entlassen Sie einen Patienten mit einem guten Gefühl?

Meine sogenannten „Lieblingspatienten“ sind diejenigen, bei denen wir spürbare Erfolge erreicht haben. Diese Patienten gehen nach Hause und sagen: Ich habe sehr viel dazugelernt, ich weiß jetzt, wie alles geht. Dann ist uns zwar bewusst, dass nicht jeder Tag zu 100 Prozent gut verlaufen wird, aber darauf kommt es auch nicht an. Wichtig ist, dass sie den Mut haben zu sagen: Ich gehe das jetzt an!

Das Gespräch führte Mirco Lomoth. May-Britt Niecke ist Leiterin der Abteilung Innere Medizin und Diabetologie der Rehabilitationsklinik Hohenelse in Rheinsberg. Mehr Artikel zum Thema Stoffwechsel, zu Adipositas, COPD, Hormonstörungen oder Schilddrüsenvergrößerung finden Sie in der aktuellen Ausgabe Nr. 12 des Magazins „Tagesspiegel GESUND“. Es kostet 6,50 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520, sowie im Zeitschriftenhandel.

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