Tiere: Das Leben ist Ernst
"Immer mehr Menschen nutzen Knut als Werbeträger" - WamS, 2. Dezember. Für den Nachbarn des Eisbären, Malaienbär Ernst, interessiert sich niemand. Gemein!
Das ist Ernst, der kleine Malaienbär aus dem Berliner Zoo. Ernst ist Knuts Negativ. Ernst hat schwarzes Fell, Knut weißes. Ernsts Artverwandte sterben in den Tropen aus, Knuts Artverwandte am Nordpol. Ernsts Mutter kümmert sich um den Kleinen, Knuts Mutter verstieß ihr Junges nach der Geburt. Um Ernst schert sich kein Mensch, um Knut reißen sich die Massen.
„The winner takes it all, the loser’s standing small“ – das Lied von Abba könnte der Soundtrack zu dieser traurigen Geschichte sein. Ernst, der vom Schicksal Benachteiligte. Wann wird endlich, wie über den Mindestlohn, auch über eine Mindestaufmerksamkeit für Zootiere debattiert?
Auch an diesem diesigen Dezembermittag ist wieder keiner da. Ernst, der sich nur wenige Schritte vom Eisbärentumult entfernt in luftiger Höhe in eine winterlich kahle Astgabel schmiegt, erfährt im Kontrast zu seinem Gegenpart keinerlei menschliche Resonanz. Seine an große Stecknadelköpfe erinnernden blanken Augen wandern suchend umher. Ein paar Erdnüsse für seine Gedanken.
Heiner Klös, als Bärenkurator für Ernst zuständig, sagt: „Vielleicht liegt es daran, dass er schwieriger zu fotografieren ist. Auf Fotos ist Ernst nur ein schwarzer Fleck. Dazu kommt natürlich, dass es zu ihm keine anrührende Geschichte gibt. Aber ich verstehe es trotzdem nicht.“
Klös macht ein Schnalzgeräusch, Ernst guckt hin, scheint den Vertrauten zu erkennen. Seine Öhrchen sind klein wie Knupperkirschen.
Ernst hat wirklich alles, was Knut auch hat – womöglich sogar noch mehr. Eigentlich vereinigt Ernst das Beste vieler Tiere in sich: Er hat die scharfen Krallen eines Adlers, das glänzend-geschmeidige Fell eines Panthers, das Showtalent einer Robbe, die Intelligenz eines Delfins und die Nase eines Schweins. Er ist ein Universaltier und als solches unfassbar niedlich.
Doch wie genau konstituiert sich Niedlichkeit? Klar, da wäre das Kindchenhafte, das Ernst, geboren am 7. November 2006, immer noch versprüht. (An einem 7. November geboren sind weitere Naturtalente wie zum Beispiel die Pianistin Hélène Grimaud und der Schauspieler Ottfried Fischer.) Zur jugendlichen Unbeschwertheit gehören auch die albernen Bewegungen – hier eine überraschende Körperdrehung, dort ein ruckhaftes Aufbäumen – und die schier ungezähmte Lust am Klettern. Manchmal durchmisst Ernst sein Gehege majestätischen Schrittes, manchmal kullert er als Bowlingkugel aus Fell über den Grund aus beigefarbenem Stein. „Eigentlich wäre ein federnder Untergrund aus Mulch besser“, sagt Herr Klös. Hier sucht ein tapferer Malaienbär seinen Weg.
Oder ist Ernst gar nicht einfach nur ein tollpatschiger Bär, sondern der Dandy unter den Zootieren? Das findet Dirk von Lowtzow, der Sänger von Tocotronic. Ihn erinnert Ernst an den Oberdandy Oscar Wilde, und so widmete von Lowtzow auf der vergangenen Tour das Lied „Gegen den Strich“ jedes Mal dem Malaienbär – weil Tocotronic im zweiten Vers Wilde mit „Talent borrows, Genius steals“ zitiert. (Dass der Schriftsteller Tom Wolfe, einer der letzten Altdandys, mit seinen weißen Anzügen eher Knut ähnlich sieht, sei als regelbestätigende Ausnahme erwähnt.) Und der dauerenttäuscht-larmoyante Zug um den Mund, der Ernst seinen Namen gab, ist inzwischen meist zugunsten eines neutralen, irgendwie professionell-bärischen Ausdrucks verschwunden. Nur manchmal lässt Ernst die Mundwinkel tief sinken. Wahrscheinlich kommen ihm dann seine Brüder und Schwestern in Indonesien in den Sinn, die dort gejagt werden: Die Galle des Malaienbären soll gut gegen Kopfschmerzen und Magengeschwüre sein, behaupten die Anhänger der traditionellen chinesischen Medizin.
Hier die technischen Daten Ernsts: Der Malaienbär, je nach Systematik Ursus Malayanus oder Helarctos Malayanus, lebt, wenn er frei ist, in Südostasien. Er kann perfekt auf Bäume klettern, weil die Natur ihn wie Pierre Littbarski mit beachtlichen O-Beinen ausgestattet hat. Er ist ein Sohlen- und Einzelgänger, der seine Füße beim Gehen nach innen dreht. Im Nacken wirft sein Fell drei bis vier tiefe Falten – was auch bei erwachsenen Bären den Eindruck entstehen lässt, er müsse, wie ein chinesischer Faltenhund, in seine Haut erst hineinwachsen. Ein Malaienbär frisst theoretisch alles, bevorzugt jedoch Insekten und Wirbellose aller Art, die er mit seinen scharfen Krallen aus Baumrinden pult. Stößt er auf Bienenhonig, so kann man mit etwas Glück beobachten, wie er sich nach dem Fressen die Tatzen mit seiner bis zu 25 Zentimeter langen, schmalen, lederschlipsartigen Zunge hingebungsvoll abschleckt.
Ist Ernst erst ausgewachsen, wird er mit etwa 140 Zentimetern Länge nur halb so groß sein wie Knut. Auf die Waage bringt ein Malaienbärmännchen maximal 65 Kilogramm – ein Eisbär kann bis zu achtmal so viel wiegen. Ein weiteres Charakteristikum ist das hellbraune „U“ zwischen Hals und Brust, das sichtbar wird, wenn Ernst sich auf die Hinterbeine stellt.
Ernst wirkt wie ein verspielter Hund. Würde man ihn in einem Feldversuch vor einem Supermarkt anbinden, er würde nicht auffallen. Liefe man jedoch als Fremde in das etwa 100 Quadratmeter große Gehege der Bärenfamilie, würde die 24-jährige Mutter mit Hieben und Bissen veranlassen, dass man sich unwohl fühlt. Da darf sich niemand Illusionen hingeben.
Ragnar Kühne vom Zoo sagt: „Ernst ist ein sehr unternehmungslustiger, aufgeweckter und zutraulicher Bär. Außerdem war er als Baby sehr verspielt. Thomas Dörflein hat hinter dem für die Besucher sichtbaren Gehege einen Reifen aufgehängt, in dem der Ernst immer gern geschaukelt hat.“
Ragnar Kühne erzählt weiter, dass Ernst nie gewogen wurde. Niemand habe es übers Herz gebracht, ihn von seiner zwar fürsorglichen, aber daher auch aggressiven Mutter zu trennen. Er schätzt Ernsts Geburtsgewicht auf 300 bis 400 Gramm.
Von Knut sind selbstverständlich alle Daten zum Gewichtsverlauf bekannt.
Es standen 2007 zeitweise so viele Menschen vor dem Eisbärengehege, dass sie im Zoo flehende Durchsagen machen mussten: „Bitte, schauen Sie auch bei Ernst vorbei.“ Wer war noch mal Ernst?
An diesem nassen Dezembertag steht das Publikum trotz Kälte wieder in Viererreihen vor dem Eisbärengehege. Ein Raunen geht durch die Menge, das nur von dem Surren der vielen Kameras unterbrochen wird. Ein Mann in dicker Thermojacke verfüttert glitschige Fische an Knut, dessen Fell inzwischen sein unschuldiges Weiß verloren und eine gelbliche Färbung angenommen. Es ist, als wolle Knut sagen: „Ich bin das gefährlichste Landraubtier der Welt. Ich will nicht länger süß sein.“
Nebenan schüttet ein Pfleger teilnahmslos eine Schubkarrenladung tote Küken in die Weißkopfseeadler-Voliere. Nein, gerecht ist das alles nicht.
Esther Kogelboom