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Bereits 1988 wurde Hermann Simon Direktor der neuen Stiftung in der teilsanierten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Jetzt folgt ihm die Historikerin Anja Siegemund im Amt nach.
© Drmer/Davids

Centrum Judaicum: „Das ist mein Baby“

Hermann Simon, Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, übergibt sein Amt nach 27 Jahren.

Die Regale ausgeräumt, der Schreibtisch leer – an diesem Montag gibt Hermann Simon sein Amt als Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ an die Historikerin Anja Siegemund ab. Er ist 66 Jahre alt und hat das Haus mit der goldenen Kuppel in der Oranienburger Straße 27 Jahre geleitet. „Das ist mein Baby“, sagt er. Von einem Tag auf den anderen zu gehen würde ihm schwerfallen. Er hat seine Bücher und Unterlagen erst mal vom ersten in den dritten Stock geräumt, in ein kleines Büro neben der Bibliothek. Von hier aus wird er seine Nachfolgerin noch eine Weile unterstützen.

Simon hat großen Anteil daran, dass die Ruine der einst mächtigsten Berliner Synagoge nicht abgerissen, sondern teilsaniert wurde. Er wäre nicht der bescheidene Mann, der er ist, würde er nicht auf Mitstreiter verweisen. Zum Beispiel auf Peter Kirchner, den früheren Vorsitzenden der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde.

Das Verbrechen wohnt um die Ecke

Simon ist Historiker und arbeitete im Münzkabinett auf der Museumsinsel, bevor er 1984 das Organisationsbüro der Ausstellung „Weltschätze der Kunst“ übernahm. Seine Karriere als Ausstellungsmacher begann. 1988 organisierte er die erste Ausstellung über jüdisches Leben in Ost-Berlin. „Und lehrt sie: Gedächtnis“ hieß die Schau. „Ich wollte zeigen, dass die Nazi-Verfolgung auch hier, in der späteren Hauptstadt der DDR, stattfand und dass die Verbrecher um die Ecke wohnten“, sagt Simon. Die Ausstellung öffnete vielen die Augen. Als der Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße beschlossen und die Stiftung Neue Synagoge gegründet wurde, war klar, dass er der Chef sein würde. 1995 eröffnete Simon das Centrum Judaicum mit der Dauerausstellung „Tuet auf die Pforten“.

Die Kuppel der Synagoge in Berlin glänzt über den Dächern der Oranienburger Straße.
Die Kuppel der Synagoge in Berlin glänzt über den Dächern der Oranienburger Straße.
© picture-alliance/ dpa

Seitdem fügte er der Darstellung der Geschichte der Berliner Juden immer neue, auch unbequeme Facetten hinzu. So thematisierte er in Sonderausstellungen die jüdischen Spitzel, „Greifer“ genannt, die zwischen 1938 und 1945 untergetauchte Juden verrieten. Oder den Mädchenhandel in Osteuropa zwischen 1860 und 1930, bei dem jüdische Frauen zur Prostitution gezwungen wurden und jüdische Menschenhändler daran verdienten. Lange bevor sich Museen mit der Herkunft ihrer Bestände beschäftigten, machte sich Simon auf die Suche nach der Sammlung Max Liebermanns. Simon beschönigte nichts und schonte niemanden – auch sich selbst nicht. 2014 veröffentlichte er die Fluchtbiografie seiner 1998 gestorbenen Mutter Marie Jalowicz-Simon, die sie ihm diktiert hatte. Sie überlebte die Nazi-Verfolgung im Untergrund in Berlin. Das Buch ist ein mutiges Dokument, weil es ungeschönt zeigt, in welche Zwänge sich die junge Frau begeben musste. Ihre Helfer nutzten ihre Hilflosigkeit zum Teil schamlos aus.

Urlaub kennt Hermann Simon nicht

1997 machte Hermann Simon seine eigene Vergangenheit zu schaffen, als über seine Stasi-Akte diskutiert wurde. Dass es eine Akte über ihn gibt, wunderte Simon nicht. „Als Ausstellungsmacher der staatlichen Museen saß ich ja auf dem Präsentierteller“, sagt er heute. IM war er nie, Anwerbeversuche scheiterten. Auch das gehe aus der Akte hervor, schrieb der Tagesspiegel 1997. Ignatz Bubis, damals Präsident des Zentralrats der Juden, nannte die Akte „harmlos, harmloser geht’s nicht“.

Vielleicht wegen dieser Debatte wurde Simon nicht Chef des neu gegründeten Jüdischen Museums, doch seiner Seriosität und seiner Stellung im Centrum Judaicum tat das keinen Abbruch. Um vieles kümmerte er sich selbst, so was wie Urlaub kennt Simon eigentlich nicht. „Ich bin halt immer da“, sagt er. „Hier geht auch immer jemand ans Telefon.“ Und weil halt immer jemand da war, kam das Archiv des Centrums an Aktenbestände, die sonst womöglich vernichtet worden wären, etwa kurz nach dem Mauerfall Unterlagen über die Opfer des Faschismus, die im Keller des Berliner Magistrats lagen.

Hätte Simon nicht gerade am Schreibtisch gesessen, hätte es sich vielleicht auch jener Spender anders überlegt, der auf einmal in der Tür stand und rief: „Hat hier mal jemand einen Überweisungsschein?“. Er überwies der Stiftung mehrere 100 000 Euro. Ein anderes Mal kam ein berühmter Physiker zu Besuch und unterhielt sich lange mit Simon. Am Ende zog er sein Scheckbuch und fragte: „Wären 50 000 Euro angemessen?“

Simon half vielen bei der Suche nach ihrer Identität. Auch jener Israelin, die sich 2003 meldete und nur wusste, dass sie 1938 oder 1939 in Deutschland geboren wurde und in Berlin überlebt hatte. Simon fand heraus, dass Hildegard Dondorf 1942/43 in ein Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde kam und wohl deshalb überlebte, weil eine Betreuerin aus ihr auf dem Papier ein katholisches Mädchen machte.

Von Abschied will niemand sprechen

Einige Dokumente hielt Simon bewusst unter Verschluss. Niemand sollte wissen, welches Mitglied der Jüdischen Gemeinde nach 1945 zum Judentum konvertiert ist oder wer nur einen jüdischen Vater hat. Simon wollte nicht, dass mit dem Wissen Politik gemacht wird. Denn nach jüdischem Religionsgesetz gilt nur als Jude, wer eine jüdische Mutter hat. Von 1997 bis 2001 hat er als Vorsitzender des Gemeindeparlaments Erfahrung mit der Gemeindepolitik gesammelt. Es reichte ihm. Fortan hielt er sich raus.

Humor und Ironie erleichtern ihm die Arbeit – auch die Zusammenarbeit mit den Behörden. 2013 bedankte er sich bei einer Archivmitarbeiterin des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten für ihre Hilfe bei einer Recherche. Als Dank schickte er ihr das Büchlein, das daraus hervorgegangen war. Die Mitarbeiterin habe sich über den Dank gefreut, musste das Buch im Wert von 14,90 Euro jedoch abliefern, schrieb ihm daraufhin der Anti-Korruptionsbeauftragte des Amtes. Simon solle es künftig bitte bei einem Dankeschön belassen. „So ein Irrsinn“, sagt Simon und schüttelt den Kopf. Er hat das Schreiben gerahmt und aufgehängt.

Der Chef habe nie seine Stimme erhoben, sagt eine Mitarbeiterin. Und wenn alle anderen vor einer Ausstellungseröffnung furchtbar hektisch waren, habe er erst recht gelassen reagiert. Vor einigen Tagen haben sie sein neues Büro mit einer kleinen Feier eingeweiht. Von Abschied und Ruhestand will hier niemand sprechen. Es wäre zu traurig.

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