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Klare Ansage: Mütter mit Kinderwagen sind in Prenzlauer Berg das Feinbilder Nummer eins.
© dpa

Feindbilder in Prenzlauer Berg: "Das Boot ist voll"-Rhetorik ist unerträglich

Das Auswärtige Amt sollte endlich eine Reisewarnung für den Prenzlauer Berg aussprechen. Mütter sind hier zum Feindbild hochgeschrieben worden – dabei haben die Hassprediger keine Ahnung.

Ich schreibe diese Zeilen mit Schaum vor dem Mund. Zarter, weißer Milchschaum ... mhh, ein bisschen Kaffeegeschmack ist auch dabei! Gleich werde ich den frisch gebackenen Biscotto von der Untertasse nehmen. Erst noch mit dem Silberlöffel umrühren. Eigentlich ein Traum!

Dummerweise hatte ich vor kurzem eine Bauch-OP und kann mein Heißgetränk deswegen nicht unbeschwert genießen. Denn jetzt bin ich – ob ich will oder nicht – eine sogenannte Latte-Macchiato-Mutter, und damit der Arsch der Saison. Oder, frei nach den Recherchen von „Taz“-Autorin Anja Maier („Ich bin Mutter, lassen Sie mich durch“): so was wie der Rinderarsch mit Eutern der Saison.

Ich trau mich schon nicht mehr nach Prenzlauer Berg hoch, weil ich Angst habe, das Baby könnte Hunger kriegen, und ich schaffe es nicht rechtzeitig wieder über die Torstraße zurück nach Mitte. Vielleicht sollte das Auswärtige Amt für den Kiez langsam eine Reisewarnung aussprechen, so wie es das für Teile der USA längst tut: „Das Stillen von Babys in der Öffentlichkeit wird zwar mittlerweile in wohl allen Bundesstaaten von den ,indecent exposure’-Strafvorschriften ausgenommen, sollte wie das Nacktbaden am besten jedoch zumindest in Restaurants und Bars bzw. in weniger ,liberalen’ Gegenden unterlassen werden.“

Ja, genau: Brüste auf Werbeplakaten sind als sexy Verkehrshindernis selbst in weniger liberalen Gegenden kein Problem. Aber Brüste, an denen ein Baby saugt? Nee, klar, verstehe ich. Da kann man endlich mal das lange aufgestaute Augenrollen rollen lassen. Pfui, wieder eine von diesen selbstgefälligen Öko-Muttis!

Nähe ich mir eben eine Kutte, Zeit zum handarbeiten hab ich ja genug. Oder ich bleibe einfach ganz zu Hause, wo Mutter und Kind hingehören, damit sie niemanden in der Öffentlichkeit mit ihrem Dekolletee behelligen und mit ihren halsbrecherischen Gefährten die Trottoirs „verstopfen“, wie es immer so schön heißt, gucke beim Stillen „Scrubs“ und warte mit einem alkoholfreien Krombacher in der Hand auf meinen großverdienenden Spätheimkehrer.

Ich kann gar nicht sagen, vor wem ich mehr Schiss habe. Anja Maier zu begegnen oder Reinhard Mohr („Meide deinen Nächsten“) vom „Spiegel“, der offenbar nach alter Manier die Gespräche von Fremden am offenen Fenster belauscht, protokolliert und – mein Eindruck – per Handstreich zu nicht besonders originellen urbanen Stereotypen erklärt. Heraus kommt etwa das Psychogramm der „Kampfmutter“ mit dem schreiend-verzogenen Kleinkind im Gepäck, das den Journalisten beim Tippen stört. Bitte, Herr Mohr! Sie waren als Baby stumm wie ein Fisch?

Mir geht dieses misanthropische Zeilengeballere gehörig auf die Nerven. Sich schwungvoll über andere zu erheben, das war schon immer ziemlich unsympathisch und vor allem langweilig, hat aber inzwischen neue Auswüchse angenommen – mit unerträglicher „Das Boot ist voll“-Rhetorik. Mal sind es Mütter, dann wieder Fahrradfahrer oder Autofahrer, sehr oft sind es auch böse Zugezogene, die den heiligen Berliner Underground durch fröhliches Mitmachen abschaffen. (Wer jetzt innerlich abwinkt, ersetze das Wort „Zugezogene“ testweise durch „Migranten“.)

Resultiert die Aufregung der Angreifer eventuell aus einer Art postmoderner Unsicherheit, einem trotzigen Willen zur Distinktion, die sich aber aufgrund des Fehlens einer existenziellen Bedrohung an Unschuldigen entladen muss? – „Die Finanzkrise kann ich dir zwar nicht erklären, aber eines weiß ich genau: Du und dein teurer Kinderwagen ihr haltet euch wohl für was Besseres!“

Die Lösung? Ich habe sie und verbreite sie hier weltexklusiv: einfach mal ein bisschen netter sein. Ich habe in den vergangenen Wochen die Beobachtung gemacht: Maier und Mohr haben keine Ahnung. Die meisten Leute reagieren wirklich freundlich auf Babys. (Frauen fragen: „Wie alt ist es?“, Männer sagen beim Anblick des warm eingepackten, beschmusten Wesens: „Hat DER es gut!“) Abgesehen von einzelnen Omis im Kaufhof bieten Fremde Hilfe an, erkundigen sich nach dem Wohlbefinden, halten im Vorbeigehen ungefragt Türen auf und beugen sich dutzi-dutzi-machend über den schweineteuren Kinderwagen.

So, jetzt fühle ich mich echt irgendwie ausgebrannt. Noch eine Latte wäre jetzt gut. Mit Extraschaum und Karamellgeschmack.

Gegen Mütter, gegen Radfahrer, gegen Zugezogene – diese „Das Boot ist voll“-Rhetorik ist unerträglich.

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Esther Kogelboom

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