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Berlin: Da war Marlene Dietrich plötzlich sprachlos

Drei Berliner Frauen entlocken Berlin erstaunliche Geheimnisse. Nach ihrem ersten Erfolgsbuch erzählen sie 111 neue Stadtgeschichten.

Wie, hier soll das damals gewesen sein? Hier lag der Dustere Keller, die Schlucht in den Tempelhofer Weinbergen, wo patriotische Turnfreunde um Friedrich Ludwig Jahn gegen die Napoleonischen Besatzer konspirierten? Wo sie am Abend des 14. November 1810 gar einen Geheimbund schließen, um ihren Widerstand gegen die Franzosen zu organisieren? Nicht ganz einfach, sich das vorzustellen, wenn man an einem Novembernachmittag gut 200 Jahre später im Kreuzberger Chamissokiez an der Ecke Nostitz- und Arndtstraße steht. Statt der am Ende der letzten Eiszeit entstandenen, in der Gründerzeit zugeschütteten Schlucht zieht sich das wellige Band grauer Pflastersteine durch die Fassaden. Und statt Weinbergen gibt es nur noch die „Haifischbar“. Aber aufregend ist es schon, sich unter Verschwörer zu fantasieren.

Genau diese Zeitsprünge im Kopf sind es, die Lucia Jay von Seldeneck, Carolin Huder und Verena Eidel mit ihrem neuen Buch auslösen wollen. Die Sache wird langsam zur lieben Gewohnheit. Immer wenn es herbstet in Berlin, bringt das im gemeinsam im Theater Heimathafen Neukölln arbeitende Damentrio aus Autorin, Rechercheurin und Fotografin ein neues Stadtbuch heraus. Vergangenes Jahr „111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss“, dieses Jahr „111 Orte in Berlin, die Geschichte erzählen“. Der erste Band wurde trotz des stereotypen Reihentitels des auf Regionalliteratur spezialisierten Emons-Verlag ein Verkaufsschlager. 50 000 Exemplare wurden verkauft, sagt Carolin Huder. Was sicher was damit zu tun habe, dass Berlin einfach interessiert, vermutet sie. Aber auch mit der unterhaltsamen Mischung aus klassischen Berliner Orten und pittoresken Geheimtipps.

Auch das neue Buch ist eigenwillig geraten, auch wenn es weniger sofort sichtbare Oberflächenreize enthält. Diesmal geht es zum einen um Orte wie Der Dustere Keller, die heute ganz anders aussehen. Oder um Orte, die eigentlich jeder kennt, wie das KaDeWe oder das Brandenburger Tor. Nur erzählt das Buch dann die weniger bekannte Geschichte dazu. Etwa die der im KaDeWe 1983 wegen Ladendiebstahls verhafteten Marta Rafael. Pikant daran – sie war die Ehefrau des giftig gegen den Westen agitierenden DDR-Fernsehkommentators Karl-Eduard von Schnitzler. Oder die des Hofrats Simon Kremser, der 1825 mit seinen am Brandenburger Tor startenden Pferdeomnibusrouten den öffentlichen Personennahverkehr erfindet.

111 Orte, eine Seite Text plus einem historischen – und einem heutigen Foto – das ist das Gestaltungsprinzip. Da fällt das Schildern historischer Episoden knapp, manchmal zu knapp aus. Wie im Fall der Bockbrauerei, die heute gar nicht weit vom „Dusteren Keller“ als Gewerbehof in der Fidicinstraße liegt. Hier gewinnt der 25 Jahre alte Sinto Johann „Rukeli“ Trollmann 1933 die deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Der Boxer ist den Nazis ein Dorn im Auge, sie bekämpfen den Publikumsliebling mit allen Mitteln. Ein Schaukampf soll Trollmann samt seines angeblich undeutschen Kampfstils vorführen, doch er erscheint unerschrocken als blond gefärbte und weiß gepuderte Arier-Karikatur, wie das Buch erzählt. Dass er 1944 in einem Außenlager des KZ Neuengamme ermordet wird, erfährt man nicht. „Uns hat der Moment seiner Heldentat interessiert“, sagt Lucia Seldeneck. „Die wollten wir ehren, aber nicht sein ganzes Leben auflösen.“ Überhaupt gehe es im Buch nicht um historische Quellenforschung, sondern um die Tradition des Weitererzählens, sagt Seldeneck.

„Wie ein Stadtführer, der vor einem Gebäude steht und bruchstückhaft erzählt, was dort passiert ist“, springt Verena Eidel ihr bei. Ein Stück Lebensgefühl, ein Ereignis, eine Anekdote aus einer anderen, manchmal mittelalterlichen, manchmal erste wenige Jahre versunkenen Zeit – quer durch alle Bezirke und geschichtlichen Epochen. Von der Maikäferkaserne in Pankow, wo der Abschied von zwei Frauen namens Lili und Marleen den Texter Hans Leip 1915 auf das gleichnamige Lied bringt und jetzt der BND residiert, zur Ladenwohnung am Hackeschen Markt, wo der Künstler Käthe Be im Sommer 1995 das Schaufenster bezieht oder dem heutigen Café Einstein in der Kurfürstenstraße in Tiergarten. Hier unter dem Balkon der früheren Villa der Stummfilmdiva Henny Porten spielt eine besonders hinreißende Berliner Episode. Da stellt sich nämlich an einem bitterkalten 7. Januar ihr glühendster Fan auf und spielt ihr ein Geburtstagsständchen auf der Geige. Henny Porten ist so gerührt, dass sie das Mädchen hineinbittet – auf einen heißen Kakao. Vor lauter Aufregung, ihrem Idol so nahe zu sein, bekommt Maria Magdalena Dietrich kein Wort heraus. Später, als Marlene Dietrich, wie sie sich nun nennt, selbst weltberühmt wird, hat sich die Stimmlosigkeit wieder gelegt.

Lucia Jay von Seldeneck, Carolin Huder, Verena Eidel: 111 Orte in Berlin, die Geschichte erzählen, Emons Verlag, 14,95 Euro. Erhältlich im Tagesspiegel-Shop, Askanischer Platz 3, Mo-Fr 9-18 Uhr.

Gunda Bartels

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