Zensus-Zahlen in Berlin werden geprüft: Charlottenburg-Wilmersdorf sucht die Karteileichen
Seitdem erste Ergebnisse des Zensus von 2011 vorgelegt wurden, gibt es in Berlin ein Rätselraten um die Bevölkerungszahlen. Auch in Charlottenburg-Wilmersdorf fehlen plötzlich 30 000 Menschen. Der Bezirk will nun die Zahlen prüfen.
Berlin müsse endlich Klarheit ins Zahlenwirrwarr bringen und valide herausfinden, wie viele Menschen nun tatsächlich in dieser Stadt leben. „Da führt kein Weg dran vorbei, wir müssen den Widerspruch zwischen den verschiedenen Größen endlich auflösen, da hängen schließlich Rechtsverbindlichkeiten dran“, sagt Klaus-Dieter Gröhler (CDU), stellvertretender Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf. Deswegen will er seinen Mitarbeiter einen zufälligen Datensatz mit 1000 Adressen, den das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten zur Verfügung stellen müsste, nachprüfen lassen: „Wir wollen zunächst auf den Klingelschildern oder dem stillen Portier nachgucken, ob da die Namen der Gemeldeten auch tatsächlich dranstehen.“ Dass Berlins Datenschutzbeauftragter Alexander Dix diesen Test für verfassungswidrig hält, will Gröhler nicht akzeptieren.
In der Berlin gibt es ein Rätselraten um die Bevölkerungszahlen, seitdem erste Ergebnisse des Zensus von 2011 Ende Mai dieses Jahres vorgelegt wurden. Da kam heraus, dass 180 000 Menschen weniger in Berlin leben als gedacht, nämlich nur 3,3 Millionen. Laut den nun überholten Melderegisterauswertungen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg sind es 3,5 Millionen. Bei dem Großteil der 179 391 Karteileichen soll es sich Statistikexperten zufolge um Migranten handeln, die sich beim Wegzug nicht im Bürgeramt abgemeldet haben.
Überraschenderweise gehört Charlottenburg-Wilmersdorf zu den zahlenmäßig am stärksten betroffenen Bezirken: Statt 320 000 Einwohner ergab die Volkszählung 2011 nur noch 290 000: Das sind zehn Prozent weniger Charlottenburg-Wilmersdorfer. Eine Erkenntnis, über die alle im Bezirk rätseln, wie Gröhler sagt. „Wir sind zwar einer der mobilsten Bezirke, innerhalb einer Legislaturperiode tauscht sich die Hälfte der Bevölkerung aus“, sagt der Bezirksbürgermeister. Doch man habe eine andere Migrantenpopulation als Mittes Stadtteil Wedding oder der Bezirk Neukölln.
„Wir haben alle Erklärungsmuster durch, doch die passen alle nicht, und wir wollen Gewissheit“, sagt Gröhler. Sind es Eltern mit Scheinadressen wegen der Schulanmeldungen in bildungsstarken Kiezen? „Aber doch nicht so viele“, vermutet Gröhler. Sind es internationale Manager, die sich nicht im Bürgeramt in die Abmeldeschlange stellen? „Aber stellen sie sich an zum Anmelden?“, kontert er. Also Zweitwohnsitze von Skandinaviern, die nicht hier leben? Alles Spekulation, sagt Gröhler und zuckt mit den Schultern.
Ihm geht es nicht nur um die Verluste für Berlins Haushalt durch die geringeren Pro-Kopf-Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich. „Wir müssen Rechtssicherheit schaffen“, fordert er. Wenn Berlin nicht gegen den Zensus klage, würden die Zahlen rechtsverbindlich. Auch als Grundlage für die Prozent-Hürden bei den Parteien, fürs Akzeptieren von Volksbegehren. Gröhler will die auf Stichproben beruhenden Hochrechnungen der Zensus-Volkszählung „nicht als Gottgegeben hinnehmen“, auch da könnten Fehler lauern. Nach aktuellem Stand könne es nun passieren, „dass – wenn wirklich alle Charlottenburg-Wilmersdorfer zur Wahl gehen – eine andere Anzahl Menschen ihre Stimme abgeben, als nach Melderegister verzeichnet sind“, sagt Gröhler.
Denn obwohl der Zensus jetzt 180 000 weniger Berliner verzeichnet, dürfen die Melderegisterstatistiken nicht rückwirkend runtergerechnet werden. Wer sich jetzt also Zahlen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg zieht, benutzt falsche, weil laut Zensus eben überhöhte Bevölkerungszahlen. Und dann gibt es da noch einen dritten Datensatz mit wieder anderen Zahlen, die Fortschreibungen der (ja veralteten) Melderegisterzahlen, die die Senatsverwaltungen für alle berlinrelevanten Planungen benutzen. Anfang 2014 kommt noch der komplette Zensus hinzu. Im Senat und auch im Amt für Statistik sind jetzt interne Arbeitsgruppen einberufen worden.
Annette Kögel