Buch über Berlins Spätis: Chaos aus Prinzip
Schön sind sie nicht, aber mancher wäre aufgeschmissen, wenn es die Spätis nicht gäbe. Ein Berliner hat diese Institution des Einzelhandels erforscht und ein seltsames Buch daraus gemacht.
Die Recherche fiel ihm nicht immer leicht. Oft taten sich Abgründe auf. Zum Beispiel bei der Erkenntnis, wie Jugendliche heute ihre „Yum-Yum“-Tütensuppen konsumieren. „Ich hatte doch keine Ahnung“, sagt Christian Klier, „aber: Die jungen Leute essen das roh.“ Wie Chips! Weil dann das Glutamat noch konzentrierter schmeckt!
Sieben Monate hat der 29-jährige Klier in Berlins Spätis geforscht, mehr als 200 Läden besucht, dabei zahllose Interviews geführt, Geschichten gesammelt, Fotos geschossen. Zwischendurch hat er selbst Regale eingeräumt, keine einzige Glasflasche ging zu Bruch. Herausgekommen ist „Der Späti. Eine Ortsuntersuchung in Berlin“, die bisher umfangreichste, detailverliebteste und erhellendste Dokumentation dieser Einzelhandels-Institution.
Allein die Statistiken, die Klier selbst erstellt hat. In seinem Buch verrät er etwa, dass ein durchschnittlicher Berliner Spätverkauf 14 unterschiedliche Sorten Bier und gleichzeitig Zigaretten im Wert von 8200 Euro in seinem Laden hat. Dass Spätis im Schnitt 39 Quadratmeter messen. Dass 70 Prozent der Händler ihre Kunden anschreiben lassen. Und ganz toll: dass ein Neueröffnungsschild durchschnittlich drei Jahre lang im Schaufenster hängt.
Das Layout ist chaotisch wie ein Späti
Es ist sicher nicht das schönste Buch der Welt geworden. Wohlwollend ausgedrückt: Es ist visuell sehr eigen. Unruhig und überladen wirkt es, auf manchen Seiten quält der Autor seine Leser mit pinkroter Schrift auf knallgelbem Hintergrund. Die Fotos sind oft derart nebeneinandergequetscht, dass man kaum erkennt, wo das eine aufhört und das nächste anfängt.
Man fragt sich: Hat das Ding vielleicht ein Grundschüler gestaltet? Bis man begreift: Nein, das soll so! Weil es eben genauso krude, chaotisch und extrem verdichtet wirkt wie das Innenleben vieler Spätis. Christian Klier hat Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Weißensee studiert, das Buch ist seine Abschlussarbeit. „Wenn du in einen typischen Späti eintrittst, bist du leicht überwältigt von dem riesigen Angebot, das dort auf kleinstem Raum präsentiert werden muss.“ In derselben Anmutung wollte er sein Buch gestalten. „Ich glaube, es ist Späti-like.“
Vor seiner Recherche hat sich Christian Klier nie länger als nötig in Spätverkäufen aufgehalten. Immer nur: Rein, kaufen, raus. Meistens Chips und kaltes Urquell, sonntags auch gern Pasta, wenn er es wieder nicht geschafft hatte, fürs Wochenende einzukaufen.
Späti-Besitzer als "Sozialarbeiter"
Erst durch das Projekt fiel ihm die soziale Komponente des Spätis auf: Er ist ein Ort, an dem nachbarschaftliche Kommunikation stattfindet, wo Menschen Zeit verbringen, Kontakte knüpfen, auch Sorgen teilen. Den Besitzer der Nordneuköllner „Eck-Oase“ nennt Klier inzwischen „Sozialarbeiter“. Weil der sich um seine Kunden kümmere, manche sogar duschen lasse. Die „Eck-Oase“ ist Kliers Stamm-Späti. Hier hat er sich – ein Höhepunkt des Buchs – an einer 31-Stunden-Fotoreportage versucht. Fast alle Kunden waren bereit, sich ablichten zu lassen. Auf den Bildern lächeln Hipster, Schluffis, Schicke, Fertige, Kinder, Studis, Rentner und Obernormalos in die Kamera. Den durchschnittlichen Kunden gibt’s wohl nicht. Auch eine Erkenntnis.
In einer weiteren Fotoserie hat der Autor dokumentiert, was sich alles in den Schaufenstern findet. Eine Menge schräges Zeugs nämlich. Wasserkocher, Armbrüste, Perücken, Buschtrommeln, sogar eine Streitaxt mit zweifacher Klinge. Ein paar Seiten zuvor verwendet er eine ganze Doppelseite darauf, in riesigen Lettern einen kurzen Auszug aus dem Interview mit einer Späti-Betreiberin aus Friedrichshain abzudrucken: „Was macht Ihren Späti so besonders?“ – „Na icke!“
Im Bereich Späti-Forschung will Christian Klier übrigens nicht weiterarbeiten. Er macht jetzt erst mal ein Aufbaustudium, ist freiberuflich als Grafiker tätig. Was ihm von seinem Buch bleibt? Auf jeden Fall seine Freundschaft zu Doris Heil, der Besitzerin der Neuköllner „Heil Quelle“ – eines Spätis, in dem man neben dem üblichen Sortiment auch regalweise Baumarkt-Artikel kaufen kann. Sogar seinen letzten Geburtstag hat Klier in einem Spätverkauf gefeiert. Hat einfach 100 Euro auf die Kasse gelegt, da haben 30 Leute von getrunken. Herrlich war’s.
Christian Klier: Der Späti. Eine Ortsuntersuchung in Berlin. Berlin Story Verlag. 176 Seiten, 9,95 Euro
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