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Die Zahl der Pendler steigt in Brandenburg kontinuierlich an.
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Bahnexperte fordert mehr Investitionen: „Brandenburg lebt von Pendlern“

Sie halten das Land am Laufen, doch die Politik vernachlässigt sie. Ex-Bahn Regionalleiter Hans Leister fordert Verbesserungen für Pendler.

Er gilt als einer der renommiertesten Bahn-Kenner der Hauptstadtregion: Hans Leister war vor der Jahrtausendwende Regionalchef der Deutschen Bahn für Brandenburg und Berlin, später wechselte er zum französischen Bahnunternehmen Veolia. Seit 2009 ist er als Berater tätig. Wenn es um die Schiene geht, meldet er sich regelmäßig zu Wort – so auch beim neuen Nahverkehrsplan für Brandenburg, der jüngst vorgelegt wurde. In einer Anhörung im Landtag ist Leister als Experte gehört worden. Der Tagesspiegel dokumentiert an dieser Stelle – in Auszügen – seine Stellungnahme. Ein Plädoyer für die Pendler.

Von Pendlern und "'Binnen-Pndlern"

Nach dem statistischen Bericht zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigen im Land Brandenburg (Mai 2017) hatten Mitte 2016 insgesamt 953 000 Beschäftigte dort ihren Wohnsitz. Davon hatte nur gut die Hälfte ihren Arbeitsplatz in dem Landkreis oder der kreisfreien Stadt, in der sie wohnen. Fast ein Drittel der Brandenburger Beschäftigten, also über 278 000, arbeitet in einem anderen Bundesland. Weitere 172 000 arbeiten in einem anderen Landkreis oder einer anderen kreisfreien Stadt, sind also „Binnen-Pendler“ innerhalb des Landes.

Die Zahl der Beschäftigten insgesamt, vor allem aber der Anteil der Pendler, nimmt zu. Potenzial für weiteres Wachstum ist vorhanden: In Berlin beträgt der Anteil der Einpendler an den Arbeitsplätzen nur 22 Prozent, in allen deutschen Großstädten ist dieser Anteil höher, zum Teil weitaus höher. Berlin wird sich bei der Entwicklung weiter anderen deutschen Großstädten annähern, damit wird auch die Zahl der Pendler zwischen Berlin und Brandenburg weiter zunehmen.

Pendeln zahlt sich aus

Das Pendeln wird auch deshalb weiter zunehmen, weil in Berlin Wohnungen und Grundstücke knapp und teuer sind – und noch knapper und teurer werden –, während Brandenburg Raum bieten kann. Das Land Brandenburg ist Pendler-Deutschlandmeister, vielleicht sogar Europameister. Wachstum und Wohlstand in Brandenburg beruhen zu einem ganz wesentlichen Teil darauf, dass die Einwohner ihr Auskommen in anderen Bundesländern verdienen.

Wenn man unterstellt, dass die Löhne und Gehälter der Pendler tendenziell höher sind als die der im Land Beschäftigten (sonst würden sie nicht die Mühe des Pendelns auf sich nehmen), so dürfte etwa die Hälfte des Lohn- und Einkommensteueraufkommens im Land Brandenburg von Pendlern in anderen Bundesländer erarbeitet werden: Das Land Brandenburg lebt von seinen Pendlern.

Einige Vergleiche: Die Zahl der Brandenburger, die in anderen Bundesländern arbeiten, ist 13 Mal so hoch wie die Zahl der Menschen in Brandenburg, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Oder: Die Zahl der Pendler in andere Bundesländer ist 70 Mal so hoch wie die Zahl der im Bergbau beschäftigten Brandenburger. Beschäftigt sich die Landespolitik 13 Mal so viel mit den Pendlern wie mit der Landwirtschaft? Kümmert sie sich 70 Mal so viel um Verkehrspolitik für Pendler wie um die Zukunft der Braunkohle-Beschäftigten? Beschäftigt sich der Finanzminister die Hälfte der Zeit, die er für Steuerpolitik verwendet, mit Brandenburger Pendlern?

Brandenburg hat auch den höchsten Anteil an Einpendlern aus anderen Ländern, 140 000 Pendler aus anderen Bundesländern finden im Land Beschäftigung. Anders ausgedrückt: Ohne die Einpendler hätten die erfolgreichen Wirtschaftsansiedlungen Probleme, Personal zu finden. Straßen und Schienen am Stadtrand Berlins sind in beiden Richtungen ausgelastet. Pendeln ist kein soziales Randphänomen, sondern die Existenzgrundlage des Landes.

Geschichte und Finanzierung

In den neunziger Jahren wurde das Regionalverkehrsnetz entwickelt, das bis heute die Grundlage bildet. Über 20 Jahre ist nun schon stetiges Wachstum bei den Fahrgastzahlen zu verzeichnen, ein Ende der positiven Entwicklung nicht abzusehen. Allerdings sind zwischendurch die politischen Schwerpunkte des Landes Brandenburgs verschoben worden, die tatsächliche Bedeutung des Schienenverkehrs ist aus dem Blick geraten.

Die Regionalisierungsmittel des Bundes wurden seit 2000 nicht mehr vollständig für Investitionen in den Schienenverkehr verwendet. Vielmehr wurden Jahr für Jahr erhebliche Anteile abgezweigt und damit die Streichung der gesamten Landesmittel für Öffentlichen Personennahverkehr und Schülerbeförderung kompensiert.

2016 erhielt Brandenburg 481 Millionen Euro Regionalisierungsmittel vom Bund, davon wurden nur 324,5 Millionen für die Bestellung von Verkehrsleistungen im Zugverkehr ausgegeben, und nur 3,7 Millionen für Investitionen in diesem Bereich. Die Fehlverwendungsquote, beträgt damit für 2016 über 30 Prozent, das ist der höchste Wert in Deutschland.

Ausgerechnet das Land mit den relativ meisten Pendlern verwendet aktuell den geringsten Anteil von den Bundeszuwendungen für den Schienenpersonennahverkehr. Seit 2000 hat sich die Fehlverwendung von Bundesmitteln in Brandenburg auf weit über eine Milliarde Euro summiert.

Brandenburg hat Schaden genommen

Die Zahl der Pendler steigt in Brandenburg kontinuierlich an.
Die Zahl der Pendler steigt in Brandenburg kontinuierlich an.
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Was hätte man mit über einer Milliarde Euro alles bewegen können? Die Brandenburger Anteile der Potsdamer Stammbahn und der Heidekrautbahn-Stammstrecke, die S-Bahn nach Velten, den Umbau des Bahnhofs Königs Wusterhausen und anderer längst bekannter Engpässe im Brandenburger Bahnnetz hätte man finanzieren können, und immer noch etwas übrig gehabt, um das Angebot von Zügen weit über das heutige Niveau hinaus zu verbessern.

Das Land Brandenburg hat sich mit dieser Politik massiv selbst geschadet. Entwicklung wurde behindert, Wegzug gefördert und Ansiedlung verhindert. Brandenburg lebt von den Pendlern, und wenn die Verkehrsverbindungen verbessert werden, lebt das Land besser, auch in den Regionen, in denen noch Strukturprobleme bestehen. Die Wohnungswirtschaft in Brandenburg sieht einen sehr direkten Zusammenhang zwischen der Nachfrage nach Wohnungen und der Qualität der Verbindungen nach Berlin, oder zwischen Wohnungsleerstand und schlechter Verkehrsverbindung nach Berlin. Ein Vertreter der Wohnungsunternehmen hat es kürzlich so ausgedrückt: „Kommt der Zug, kommt der Zuzug.“

Die heutige Realität: Stehplätze

Die Vernachlässigung hat Folgen: Überfüllte Züge. Pendleralltag heißt nicht nur früh aufstehen, er heißt für die Pendler aus den Vororten Berlins häufig auch, nur einen Stehplatz im Zug vorzufinden, weil der Zug schon aus weiter entfernten Regionen vollbesetzt kommt. Am Nachmittag kehrt es sich um: Viele Potsdamer und Vorortbewohner belegen dann die Sitzplätze ab den Berliner Bahnhöfen; diejenigen, die eine längere Strecke pendeln, müssen die ersten 20 oder 30 Minuten stehen.

Für einen Cottbuser, der jeden Tag nach Berlin fährt, summiert sich das tägliche Stehen zwischen Berlin und Königs Wusterhausen am Nachmittag übers Jahr auf 100 Stunden oder vier ganze Tage, die im Stehen verbracht werden müssen. Jeder Frankfurter, der heute nach Berlin pendelt, nutzt einen Zug, der mindestens zweimal öfter hält, als eigentlich nötig. Das bedeutet eine längere Fahrzeit von sechs Minuten pro Fahrt, entspricht 40 Stunden pro Jahr. Die Einsparung von sechs Minuten Fahrzeit pro Richtung hat für einen Pendler also die gleiche Wirkung wie eine Woche mehr Urlaub.

Strukturelle Defizite

Der Schienenverkehr im Land Brandenburg ist von strukturellen Defiziten geprägt. Einige seien hier benannt: Erstens die Vermischung von Express-Verkehr und Vorortverkehr. Wenn auf Hauptachsen zur Einsparung von Zugleistungen der Regional-Express-Verkehr aus den Landestiefen nicht vom Berliner Vorortverkehr getrennt in eigenen Linien stattfindet, sondern die Expresszüge teilweise überall halten, ist das für Pendler nachteilig.

Zweitens: Es gibt zu wenig Züge, zu wenig Platz. Gerade die, die Brandenburg wirtschaftlich am Laufen halten, werden mit täglichem Stehplatz bestraft.

Drittens: Es gibt keinen langfristigen Entwicklungsplan. Das schlimmste Defizit ist die Perspektivlosigkeit, was die langfristige Entwicklung angeht. Seit Jahren zeichnen sich Engpässe ab. Erst jetzt, 2017, wurden Korridor-Untersuchungen durchgeführt. Die Zusammenführung zu einem Gesamtkonzept wird weiteren Zeitbedarf erfordern. Warum wurde das in den letzten 15 Jahren versäumt? Es fehlt damit ein langfristiger Entwicklungsplan für den Zeitraum 2030 bis 2040, der eine Grundlage für heutige Entscheidungen darstellen kann.

Forderungen und Schlussfolgerungen

Aus den Defiziten lässt sich eine Reihe von Schlussfolgerungen ableiten: Alle Bundesmittel für den Schienenpersonennahverkehr sollten auch für diesen verwendet werden. Express- und Vorortverkehr müssen getrennt werden. Kein „Entweder oder“ von S-Bahn und Regionalverkehr – es bedarf offenkundig beider Systeme; ein Ausbau sowohl der S-Bahn als auch des Regionalverkehrs ist notwendig. Und es muss eine zukunftsorientierte Planung für die Eisenbahn-Infrastruktur geben.

Schienen-Infrastruktur wird für Jahrzehnte und Jahrhunderte gebaut. Die großzügigen Planungen vor etwa 130 und 90 Jahren, als die wesentlichen Elemente der heutigen Schienen-Infrastruktur geschaffen wurden, zeigen, wie man weitblickend bauen kann – davon profitieren wir noch heute.

Ein krasser Gegensatz dazu ist, dass heute allen Ernstes erwogen wird, Eisenbahn-Hauptachsen wie die Berliner Nordbahn oder die Potsdamer Stammbahn nur eingleisig wiederaufzubauen. Für Brandenburg ist es notwendig, einen eigenen Plan zu erstellen, der den Zeitraum 2030-2040 abdeckt und – im zweiten Schritt – mit Berlin abzustimmen.

Den Pendlern als der mit Abstand größten „Berufsgruppe“ im Land sind es alle Akteure schuldig, jetzt unverzüglich die langfristigen Planungen ebenso anzugehen wie kurzfristige Verbesserungen, wenn die weitere Entwicklung des Landes nicht behindert werden soll.

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