Konfliktforscher über Extinction Rebellion: „Bisher waren die Aktionen wie kleine Nadelstiche“
Effektiv oder schädlich? Der Berliner Konfliktforscher Swen Hutter schätzt im Interview die Effekte der Blockaden für die Klimabewegung ein.
Haben Sie sich die Blockaden von Extinction Rebellion in diesen Tagen selbst angesehen?
Ja, ich war am Montag auf dem Potsdamer Platz und am Mittwoch beim Großen Stern. Mein erster Eindruck: Die Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion sind keine homogene Masse und sie sind friedlich und bunt.
Halten Sie es für legitim, dass die Aktivisten Straßen blockieren?
Für einen Forscher wie mich stellt sich eine andere Frage: Was kann man damit erreichen? Historische Beispiele zeigen, dass radikalere Aktionen für eine Bewegung ganz unterschiedliche Effekte haben können. Bei den Bürgerrechtsbewegungen in den USA hat der etwas radikalere Flügel den moderateren Kräften geholfen. In anderen Fällen – zum Beispiel bei den Protesten gegen den G-20-Gipfel 2017 in Hamburg – kam es zu Eskalationen.
Die derzeitigen Blockaden könnten der Klimabewegung also sowohl schaden als auch nutzen?
Genau. Aber es ist noch zu früh, um das abzuschätzen. Bisher waren die Aktionen eher kleine Nadelstiche, die in Berlin zwar spürbar sind, aber keine starken Auswirkungen auf den Alltag von Bürgerinnen und Bürgern haben. Aktuell gibt es in der Gesellschaft eine relativ hohe Zustimmung zu den inhaltlichen Zielen von Fridays for Future und auch von Extinction Rebellion. Zugleich gibt es aber einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der diese Ziele noch nicht teilt.
Viele sind der Ansicht, Extinction Rebellion sei radikal, auch die Aktivisten selbst nennen sich so. Was heißt eigentlich „radikal“ aus Ihrer Sicht?
Die aktuellen Aktionen sind einfach radikaler als das, was wir aufgrund der vergangenen Wochen und Monate gewohnt waren. Aber es ist nicht die radikalste Form, Protest auszutragen. Man sollte sich da von einem Entweder-Oder-Denken verabschieden. Die Bewegungsforschung unterscheidet zwischen verschiedenen Aktionsformen aus einem Aktionsrepertoire. Dieses Repertoire kennen wir aus der langen Geschichte der sozialen Bewegungen in Deutschland. Was den rein demonstrativen Charakter, zum Beispiel das Marschieren über einen Platz, hinter sich lässt, würden wir tatsächlich als die nächste Stufe der Radikalität bezeichnen. Man muss aber ganz klar sagen: Empirische Belege zeigen, dass es von hier sehr weit ist zum nächsten Schritt, Gewalt gegen Menschen anzuwenden.
Die Aktivisten sind freundlich zur Polizei und bedanken sich nach Räumungen unironisch. Auch die Polizei äußert sich zufrieden über die Einsätze.
Das ist nichts Neues. Vor allem die globalisierungskritische Bewegung in den 2000er Jahren verwendete in jüngerer Zeit performative Akte dieser Art. Auch die Extinction-Rebellion-Aktivisten gehen bisher demonstrativ gemäßigt mit der Polizei um. Momentan zeichnet sich auch nicht ab, dass extremere Akteure auf den Plan treten werden. Einzelne, die ausscheren, werden bisher sofort zurückgepfiffen. Wenn sich aber die Aktionen hinziehen und noch größer werden, muss man sehen, wie die Polizei reagiert.
In Amsterdam und London zum Beispiel wurden in den vergangenen Tagen zahlreiche Aktivisten festgenommen. Das zeigt: Es könnte schon nochmal anders zur Sache gehen. Die erstaunlich professionelle Medienarbeit und die gute Organisation der Akteure macht es aber zugleich schwer einschätzbar, wie stark die Bewegung über den Kreis der Aktivistinnen und Aktivisten hinaus tatsächlich verankert ist. Es ist aktuell unklar, ob Extinction Rebellion eine Grassroots-Bewegung ist oder werden kann.
Die Bewegung könnte größer aussehen, als sie ist, weil die Aktivisten professionell organisiert sind?
Genau. Die Nachhaltigkeit dieser spezifischen Gruppierung der Klimabewegung, die ein starkes Labelling betreibt, bezweifle ich momentan noch.
Swen Hutter, 40, ist Professor für politische Soziologie an der Freien Universität und arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)