Schon 5600 Bewerber in Berlin: Bin Tierarzt, will Lehrer werden
Beim Senat haben sich 5600 Bewerber gemeldet. Und noch viel mehr haben Interesse am Lehrerjob – die Telefone stehen nicht mehr still. Aber die Warnungen vor überforderten Seiteneinsteigern werden lauter.
Eigentlich sollte Dirk-Christian Stötzner jetzt in aller Welt unterwegs sein, um seine fünf erwachsenen Kinder zu besuchen. Das war der Plan für die Zeit nach der Pensionierung. Aber nach zwei Tagen wurde er zurückgeholt: Jetzt sitzt der langgediente Schulrat in einem Büro der Schulverwaltung am Alex und erklärt Hunderten Anrufern, ob sie Chancen auf einen Lehrerjob haben. Und diesen Job wollen viele antreten: 5600 Bewerbungen liegen mittlerweile vor. Stötzner ist nicht der Einzige hier. Sechs Mitarbeiter sitzen vor den Telefonen, um die dringendsten Fragen zu klären und ungeeignete Interessenten von einer Bewerbung abzuhalten. Seitdem die Bildungsverwaltung die Ausschreibung für berufliche Quereinsteiger geöffnet hat, ist das Interesse enorm: Von der Filmautorin bis zum Tierarzt reicht die Palette der Anrufer. Auch Bankangestellte oder und berufsuntaugliche Piloten sind bei denen, die ihr Heil in einer gut bezahlten unbefristeten Stelle suchen; die es satt haben, sich von einem Fristvertrag zum nächsten zu hangeln. „Es sind viele Leute, die aus der Not heraus zu uns wollen“, fasst Stötzner seine Eindrücke zusammen. „Das sagt viel über den Berliner Arbeitsmarkt aus“, findet Stötzners Kollege Holger Kuhring, der ebenso wie Berufsschulfachmann Roger Kutschki direkt aus der Pensionierung zurückgeholt worden war, um der Hotline zu helfen.
Nicht allen Bewerbern geht es allerdings um die finanzielle Sicherheit. Manche wollen sich nur beruflich verändern, wie der Polizist, der wissen wollte, ob er bei einem Wechsel in den Schuldienst seine Verbeamtung behalten kann oder der Juniorprofessor, der dem Universitätsbetrieb entfliehen möchte. Die Beratung frisst Zeit – Zeit, die die Personalstelle nicht hat. Sie sitzt eine Etage tiefer und kämpft gegen die Flut der 5600 Bewerbungen an, die online vorliegen, sich aber auch in überquellenden Postkörben niederschlagen.
Außerdem sitzen auf dem Flur Menschen, mit denen Gespräche geführt werden müssen. Niemand weiß bislang, wie es gelingen soll, die immer weiter wachsende Zahl von Bewerbungen zu bewältigen und so auszuwählen, dass Mitte August die richtigen Leute vor den Schülern stehen. Im Mai sollen bereits die Castings stattfinden, aber bislang reihen sich in den Regalen der Personalstelle erstmal die Aktenordner aneinander, von denen viele den Hinweis „Quer“ für „Quereinsteiger“ tragen. Die Lage in der Personalstelle sei „chaotisch“, sagt ein Mitarbeiter. Es rufen aber nicht nur Quereinsteiger an, sondern auch ausgebildete Lehrer. „Erfreulich viele“ seien dabei, berichtet Stötzner. Manche wollten aus Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Baden- Württemberg zu ihrem Ehepartner nach Berlin umziehen. Sie nehmen in Kauf, dass sie hier nicht verbeamtet werden.
Bisher gibt es für die über 1700 zu besetzenden Stellen rund 2300 Bewerber mit Lehrerausbildung. Aber das reicht nicht, weil viele von ihnen erfahrungsgemäß in andere Bundesländer abwandern. Daher kommen die rund 3300 Bewerbungen von Quereinsteigern ins Spiel. Um diese Zahl kreisen viele Sorgen, denn einigen Quereinsteigern fehlt nicht nur ein pädagogisch-didaktisches Studium und das Referendariat, sondern auch ein zweites Fach. Ihnen sollen die Universitäten mit einem berufsbegleitenden Studium zur Seite stehen. Geplant ist, dass die Neulinge 19 Stunden unterrichten, während sie parallel zunächst das Zweitfach studieren und später das Referendariat nachholen.
Harsche Kritik von der Freien Universität
Zurzeit verhandelt die Bildungsverwaltung die Konditionen für dieses Zusatzstudium. Von nur 18 Monaten Studiendauer sei die Rede, empört sich Brigitte Lutz-Westphal, die an der FU die Mathematikdidaktik verantwortet. Es sei den Neulingen und den Schülern gegenüber „ethisch nicht vertretbar“, wenn die Quereinsteiger bereits derart viel unterrichteten, während sie weder ihr Zweitfach noch die entsprechenden Unterrichtsmethoden beherrschten. Das sei eine „Gefahr“ auch für Schüler. Andere Fachleute sprechen von einer „dramatischen Schlechterstellung des Unterrichts“.
Die Sprecherin der Bildungsbehörde, Beate Stoffers, betont, über den Umfang des berufsbegleitenden Studiums sei noch nicht entschieden. Im Übrigen hätten die ausgebildeten Lehrer selbstverständlich Vorrang. Ihre Bewerbungen werden weiterhin angenommen, während bei den Quereinsteigern erst mal Bewerbungsstopp herrscht. Bei der Hotline dürfte es jetzt daher bald ruhiger werden.
Die Idee zu der erweiterten Hotline hatte Oberschulrat Benno Linne, der zusammen mit Dirk-Christian Stötzner seit 2008 zur Beschwerdestelle der Bildungsverwaltung gehört. Er war es, der Stötzner vorschlug, kurzzeitig aus der Pensionierung zurückzukommen. Zu ihrer "Mannschaft" gehören neben Kutschki und Kuhring, der vorher Leitender Schulrat in Charlottenburg-Wilmersdorf war, auch zwei Frauen: Zum einen die Qualitätsbeauftragte von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), Ruby Mattig-Krone, zum anderen Stötzers Nachfolgerin Barbara Schäfer.
In den Berufsschulen kennt man sich mit Quereinsteigern aus.
Roger Kutschki findet die Sache mit den Quereinsteigern gar nicht so schlimm, denn im Berufsschulwesen, woher er kommt, gab es immer viele Fachleute, die als Seiteneinsteiger in den Schuldienst kamen. Etwa jeder zweite sei dafür geeignet, fasst er seine Erfahrungen zusammen. Kutschki warnt aber dringend davor, Lehramtsanwärter mit einer schwachen Vier aus Mitleid durch das zweite Staatsexamen zu schleusen: "Das kann man den Kindern nicht zumuten", findet er. Man solle da "lieber kein Auge zudrücken".
Bei seinen vielen Hotline-Anrufern hat Kutschki festgestellt, dass "Massen von Leuten irgendwas studieren, weil es da keinen NC gibt". Und dann fänden sie damit keine Arbeit. „Unser Ziel ist es aber nicht, Leuten ein Auskommen zu verschaffen, sondern Jugendlichen Schulbildung zu vermitteln", betont Kutschki. Im übrigen hat er festgestellt, dass sich "aus dem ganzen Bundesgebiet Leute bewerben und zwar nicht nur Viererkandidaten, sondern auch Leute, die in einer attraktiven Stadt leben wollen und nicht in Königslutter."
Um die Überforderung durch 19 Stunden Unterricht plus Aufbaustudium oder berufsbegleitendes Referendariat zu vermeiden, rät Kutschki ebenso wie die Bildungsverwaltung den Bewerbern, mit einer Teilzeitlösung zu beginnen. Dann verdiene man zwar etwas weniger aber immer noch mehr als ein regulärer Referendar, der sieben bis zehn Stunden Unterricht erteilt. Laut Bildungserwaltung verdient man auf einer Vollzeitstelle im berufsbegleitenden Referendariat (ledig ohne Kinder) zwischen 2900 und 3280 Euro brutto. Wenn man statt der üblichen 19 Stunden nur die Mindeststundenzahl von 13 Stunden unterrichtet (plus sieben Stunden Referendarsausbildung) kann man mit 2300 bis 2520 Euro brutto rechnen - etwa doppelt so viel wie ein regulärer Referendar, der allerdings weniger Sozialabgaben hat.
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