Spaziergang mit Judith Holofernes in Berlin: „Bin ooch ’ne Kiezblüte“
Nach der Veröffentlichung ihres zweiten Albums erzählt die Sängerin vom Kreuzberger Leben. Und warum sie Touristen im Graefekiez nicht missen möchte.
Dass Frühling ist, glauben hier an diesem Donnerstagnachmittag nur die Schwäne mit ihren Jungen – und die Hunde, die sie jagen. Judith Holofernes steht am Landwehrkanal, dicker Mantel, Mütze tief im Gesicht, Schal. Sie ist erkältet, und am nächsten Tag tritt sie auf.
Vor einem Monat hat Holofernes ihr zweites Soloalbum veröffentlicht: „Ich bin das Chaos“. Es ist das erste, das sie selbst produziert hat, das zweite nach dem Ende von „Wir sind Helden“. Die ersten Konzerte der Tour hat sie schon hinter sich, nun beginnt der zweite Teil. Ein letzter Tag Verschnaufpause vor dem Leben im klimatisierten Nightliner. Jetzt richtig krank werden, wäre ungut. Aber ein Spaziergang geht immer.
Ein Berliner Kind
Vom Ufer geht es vorbei am Vivantes-Klinikum. Schnell ein Cappuccino zum Mitnehmen in der Grimmstraße, dann in den Graefekiez – ihr Kiez. Vor einem Blumenladen mit dem Namen „Kiezblüte“ bleibt sie für ein Foto stehen. „Bin ooch ’ne Kiezblüte“, blödelt sie mit verstellter Stimme und lacht. Weil es ja irgendwie stimmt. Hier geboren, lebte Holofernes in Berlin, bis sie sechs Jahre alt war. Kinderladenkindheit in der Urbanstraße, Klettergerüst im Hinterhof, vorneraus Staub.
War damals alles anders hier im Graefekiez. Rauer und grauer und hundeverschissener, sagt Holofernes und streicht mit der Hand über den Putz der Häuserblocks. Heute stehen die hellgrünen Bäume auch hier am Straßenrand, die Fassaden frisch gestrichen dahinter, und auf ihnen verlieren die Graffiti gerade den Kampf gegen die Gentrifizierung – Paris an der Spree. Daran, wie es hier früher war, erinnert heute noch eines der Bücher in einer Kiste vor einem Laden in der Graefestraße. „Marx, Engels, Lenin – Über Kultur, Ästhetik, Literatur“ steht in großen Buchstaben auf dem Cover, die Ecken sind gelb von der Zeit und den Lesern.
Touristen willkommen
Dass ihr Kiez heute Spaziergänger aus der ganzen Welt anlockt, stört Holofernes nicht. „Ich kann den großäugigen Touristen, die hier über die Straße flanieren, eigentlich viel abgewinnen“, sagt sie. „Wenn jemand mit einem Jutebeutel rumläuft, auf dem ,Touris raus’ steht, ist das im Endeffekt dasselbe wie ‚Ausländer raus’, die gleiche Gartenzaunmentalität, vor der alle nach Berlin fliehen. Wenn sie ein Problem haben, sollen sie das mit dänischen Großinvestoren klären.“ Sie bleibt stehen und sieht sich um. „Ich wollte dir eigentlich einen total schönen südafrikanischen Laden zeigen, aber irgendwie ist der jetzt weg.“
Mit sechs zog Holofernes mit ihrer Mutter nach Freiburg. Dort ging sie zur Schule, kränkliches Großstadtkind unter kernigen Cornflakes-Kindern, sagt sie so. Nach Berlin zurück wollte sie eigentlich gar nicht. Sie wollte nach Liverpool, Gesang am Institute for Performing Arts studieren. Als das nicht klappte und sie keinen Plan B hatte, ging sie nach Berlin und behauptete, dass sie das sowieso vorgehabt hätte. WG-Zeit mit „Techno-Hippies“, sie studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Hochschule der Künste, nebenher trat sie in Berliner Clubs auf.
Das Aus für Wir sind Helden
Dann kommt die Zeit, die jeder kennt. 2000 gründet sie mit Jean-Michel Tourette, Pola Roy und Mark Tavassol „Wir sind Helden“, und die Radiostationen verlieben sich, weil es da plötzlich diese Musik gibt, die neu ist und eigentlich viel zu französisch für die Bundesrepublik. Einer ihrer Texte, „Außer Dir“, schafft es bis in die Pflichtlektüre des Deutschunterrichts, steht dort neben Sapphos „Ode an Atthis“. Nach vier Alben verkündet die Band, dass sie Pause machen will – Pause für immer. Zwei Jahre später veröffentlicht Holofernes ihr erstes Soloalbum „Ein leichtes Schwert“. Und obwohl sie das Album gerne mag, sagt sie heute, dass es eigentlich zu früh war.
Inzwischen ist sie seit fast 20 Jahren in Berlin. In der Nähe des Görlitzer Parks hat sie ein Studio gemietet, sie hat ein eigenes Label gegründet und vor einem Jahr ihr erstes Buch veröffentlicht, „Du bellst vor dem falschen Baum“ heißt es, darin sind Gedichte über Tiere, obwohl sie eigentlich gegen fast alle Tiere allergisch ist. Kompensation vielleicht, meint sie und grinst.
Romantische Spaziergängerin
Wenn sie nicht mit Band oder Buch auf Tour ist, schreibt sie in den Cafés um die Graefestraße und geht spazieren. Klingt wie es klingt, ist aber genau so. Eigentlich, erzählt sie, gehe sie überall hin zu Fuß. Sie hat gelesen, dass beim Gehen der Teil des Gehirns beschäftigt sei, der sonst als innerer Zensor arbeitet, Ideen zerstört, bevor sie richtig da sind. Deshalb ist Gehen für sie immer auch Schreiben. Der Song „Der letzte Optimist“ fiel ihr ein, als sie nachts am Landwehrkanal stand, Sterne im Wasser, sonst nicht viel. Im Lied wurde der Moment zu „Nichts als Satellitenschrott, Unendlichkeit und Elend“.
Holofernes’ neues Album klingt, wie es im Graefekiez aussieht. Bunt, zusammengewürfelt, assoziativ. Halb Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, halb Bilderbuch für Erwachsene. Ein bisschen französischer als Berlin, ein bisschen rauer als Paris. Nur so kalt wie an diesem Nachmittag im April ist es nicht.
Das Schöne an Kreuzberg ist, sagt Holofernes, dass sie hier ungestört sein kann, zwischen Konzerten nicht Popstar sein muss, eine, deren Texte in Schulbüchern stehen. Die Leute erkennen sie schon, sagt sie, allerdings merke sie das manchmal erst nach mehreren Jahren. Wenn jemand, der oft im selben Café sitzt, sie auf einmal fragt, ob es bald wieder auf Tour gehe, zum Beispiel. „Es gibt wahrscheinlich keinen entspannteren Ort zum Leben, wenn man eine bekannte Visage hat.“
Eigentlich wollte Judith Holofernes noch in ein Schreibwarengeschäft, einen Bleistift kaufen. Das macht sie jetzt aber doch nicht. Zu kalt, sagt sie. Stattdessen holt sie sich schnell ein Halsspray in der Apotheke. Zum Glück ist das nächste Konzert kein Open Air. Lass erst mal richtig Frühling werden.
Für das Konzert von Judith Holofernes am Sonntag im Astra Kulturhaus, Revaler Str. 99, um 20 Uhr (Einlass ab 19 Uhr) verlosen wir zwei Freikarten. Schreiben Sie bis heute, 14 Uhr, eine E-Mail an verlosungen@tagesspiegel.de, Stichwort „Judith“- Telefonnummer nicht vergessen.
Johannes Laubmeier