Interview mit Luftbrückenveteran Gail S. Halvorsen: "Zehlendorf ist fest in meiner Seele verankert"
Gail Seymour Halvorsen ist der Candy-Bomber, ehemaliger Rosinenbomber-Pilot und Kommandant. Jetzt wird der 92-Jährige Namensgeber einer Zehlendorfer Sekundarschule, und die Eltern haben ihn auch für den Zehlendorf Blog interviewen dürfen.
Mr Halvorsen, hätten Sie je gedacht, dass einmal eine Schule in Berlin nach Ihnen benannt würde?
Ich war ja schon sehr überrascht, als vor vielen Jahren auf der inzwischen geschlossenen Rhein-Main-Airbase in Frankfurt eine Grundschule nach mir benannt wurde; da sind sogar vier meiner Enkel zur Schule gegangen. Aber als mich jetzt die Nachricht erreichte, dass die ehemalige Alfred-Wegener-Schule in Berlin nach mir benannt werden soll, war ich, ganz ehrlich, völlig aus dem Häuschen. Berlin ist meine zweite Heimat, ich fühle mich der Stadt zutiefst verbunden. Das Bedeutendste an dieser Namensgebung ist für mich, dass eine Schule in Deutschland die Berliner Luftbrücke würdigt und damit auch das Andenken an die 31 amerikanischen und 41 britischen Flieger, die ihr Leben für die Freiheit der Berliner gegeben haben. Dadurch wird die Erinnerung an sie weiterleben. Und: Diese Schule wird immer an die historische Zeit erinnern, in der Feinde zu Freunden wurden. Das ist eine wunderbare Sache.
Für viele Berliner sind Sie ein großes Vorbild, jetzt setzen Ihnen Berliner Eltern, Schüler und Lehrer ein Denkmal. Mit welchen Gefühlen werden Sie sich auf den Weg nach Berlin machen?
Wenn ich das Flugzeug besteige, dann wird mein Herz erfüllt sein mit Dankbarkeit für das, was ich tun durfte, und für diejenigen, die so hart für dieses unglaubliche Ereignis im Juni gearbeitet haben. Ich blicke auch mit großer Dankbarkeit auf die Nachkriegsjahre zurück: Keiner von uns Luftbrücken-Veteranen wird die Großzügigkeit und Freundlichkeit der Berliner Bürger und des Berliner Senats jemals vergessen. Am größten sind mein Dank und meine Bewunderung aber für jene 30 Berliner Kinder, die ich im Juli 1948 am Zaun des Flughafens Tempelhof getroffen habe. Diese Kinder – nicht ich – sind verantwortlich für das, was jetzt geschieht. Diese Kinder hatten keine Schokolade und sehnten sich sehr danach, aber sie haben nicht darum gebettelt. Hätte das ein Kind getan, dann hätte ich ihm die zwei Kaugummistreifen gegeben, die ich gerade bei mir hatte, und sonst nichts weiter. Aber diese Kinder wollten nichts mehr als die Freiheit. Sie bettelten nicht und waren so dankbar, und das unterschied sie von allen anderen Kindern, die ich in fremden Ländern getroffen habe. Da habe ich die Entscheidung getroffen, ihnen zu helfen.
In einem Interview haben Sie einmal über Berliner Kinder und Jugendliche während der Luftbrücke berichtet, die zu Ihnen gesagt haben: „Wir können eine zeitlang mit zu wenig Essen auskommen. Aber wenn wir unsere Freiheit verlieren, bekommen wir sie vielleicht niemals zurück.“ Wie sehr hat Sie dieses Erlebnis geprägt?
Diese Aussage der Kinder hat mich mehr berührt als irgendetwas sonst. Das waren deutsche Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren, die mir, einem Amerikaner, einen Vortrag darüber hielten, wie wichtig Freiheit in ihrem Lebensentwurf ist. Die Freiheit nach amerikanischem Vorbild war ihr Traum, die Hitler-Vergangenheit und eine stalinistische Zukunft waren ihr Albtraum. Diese Kinder wussten besser als ich, ein Amerikaner, wie kostbar es tatsächlich ist, die Freiheit wählen zu können. Und noch eine Lektion habe ich von diesen Kindern gelernt: Wir brauchen die Willenskraft, um jetzt benötigte Dinge – Essen – beiseitezuschieben für wichtigere Dinge, von denen wir aber erst später profitieren – Freiheit. Diesen Rat sollten wir alle im täglichen Leben beherzigen und bei unseren Entscheidungen berücksichtigen. Ich finde es bis heute unglaublich, dass Kinder in diesem Alter das schon verstanden haben.
Mit Ihrem Namen verbinden wir die Werte Freiheit, Verantwortung und Freundschaft. Wie kann es eine Schule schaffen, diese Werte täglich zu leben und zu vermitteln?
Indem sie lehrreiche Ereignisse so gut und anschaulich nachbildet, dass diese Werte erlebbar werden. Das ist nicht einfach und erfordert zusätzliche Anstrengung. Werte entstehen als direkte Folge bestimmter Verhaltensweisen und Entscheidungen. Man kann gar nicht genug darauf hinweisen, wie wichtig die erste Reaktion auf eine Herausforderung oder einen Anreiz ist: Nehme ich die erste Zigarette oder nicht? Deckt sich das, was jemand von mir erwartet, mit meinen Werten und meiner Lebensweise? Da ist sie wieder, die Entscheidung für etwas Angenehmes jetzt oder für die spätere Freiheit. Solche Entscheidungen erfordern auch den Mut, sich gegen Gruppenzwänge durchzusetzen, aber sie sind nötig, um sich treu zu bleiben. Diese Momente sind die Dreh- und Angelpunkte in deinem Leben. Die kleine Entscheidung heute lenkt deine Schritte morgen auf einen guten oder einen schlechten Weg. Zum Glück sind wir alle von Geburt an mit einem Gewissen ausgestattet, das uns in vielen Fällen den richtigen Weg weist. Das ist auch der Grund, warum ich damals in Tempelhof zu den 30 Kindern am Zaun gegangen bin, obwohl ich nur zwei Streifen Kaugummi bei mir hatte – eine völlig irrationale, aber eine gute Entscheidung. Deshalb kann ich allen nur raten: Natürlich sollt ihr auf dem Weg des Lebens in den Rückspiegel schauen, um zu lernen – aber nicht zu lange, sonst verpasst ihr die Abfahrt Richtung Zukunft.
Was wünschen Sie sich für die künftige Gail S. Halvorsen Schule?
Diese besondere Schule sollte ein angenehmer Ort sein, wo Wissen und Werte vermittelt werden, die den Bedürfnissen künftiger Generationen entsprechen. Ein Ort, wo Individualismus etwas gilt und der Lehrplan den bestmöglichen Lernverlauf für jede und jeden Einzelnen fördert – was bei so vielen Schülern keine einfache Aufgabe ist. Und dann wünsche ich mir, dass der Geist der 30 Kinder vom Flughafenzaun in Tempelhof, dass ihre Liebe zur Freiheit hier präsent und spürbar ist. Ich wünsche mir, dass jede Schülerin und jeder Schüler in diese Schule geht, um zu lernen, und herausgeht, um sich für Andere einzusetzen. Dauerhafte Erfüllung im Leben bekommt man nicht durch immer mehr Geld oder ein schnelles Auto – sondern durch den Einsatz für unsere Familien und für andere Menschen.
Sie haben lange in Berlin gelebt. Was verbinden Sie mit dem Südwesten Berlins, mit Zehlendorf und Dahlem, dem Standort der künftigen Gail S. Halvorsen Schule?
Diese Stadtteile sind fest in meiner Seele verankert. Meine geliebte Familie und ich haben dort vier Jahre verbracht, die zu den angenehmsten unseres Lebens zählen. Wir sind zusammen durch die schönen Wälder und Parks gewandert und geradelt. Im Winter sind wir in der Nähe unseres Hauses in einem Park auf einem zugefrorenen Teich Schlittschuh gelaufen. Wir waren gut in die deutsche Gemeinschaft eingebunden, und besonders sind mir die wunderbaren Weihnachtsfeste in Erinnerung geblieben. Wir haben alle das Museumszentrum in Dahlem und den Botanischen Garten sehr geschätzt. Berlin war wie kein anderer Ort, an dem wir je gelebt haben. Und jedes meiner Kinder hat seine ganz eigenen Erinnerungen. Meine Tochter Denise hat zum Beispiel die Hochschule für Musik besucht und damit den Grundstein für ihre Karriere als Musikerin gelegt. Der Südwesten Berlins wird für uns immer eine zweite Heimat und ein Teil unseres Lebens bleiben.
Das Gespräch führten Michael Notbohm und Carsten Rogge-Strang vom Verein der Förderfreunde Gail S. Halvorsen Schule e.V. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.
Michael Notbohm, Carsten Rogge-Strang