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Bleiben bis zum Winter. Die Jugendlichen sitzen fast jedes Wochenende in „Zehle“ vor Strauß
© Thilo Rückeis

Jugendliche in Steglitz-Zehlendorf: Wir Kinder vom S-Bahnhof Zehlendorf

Jugendliche, die es nicht auf das Gymnasium schaffen, deren Eltern sich keine Vereinsmitgliedschaft oder Musikkurse leisten können, passen nicht ins gängige Bild von Steglitz-Zehlendorf , gehören aber dazu. Ein Besuch.

Eine Stichflamme erhellt die Bänke am S-Bahnhof Zehlendorf; das Gesicht dahinter leuchtet ein paar Sekunden auf. „Consta, Digger, das war krass!“ Unter Johlen und Beifall steht Constantin* auf dem Vorplatz vor Strauß Innovation am Teltower Damm; in der einen Hand hält er eine Deoflasche, in der anderen ein Feuerzeug. Vor ihm auf den Bänken sitzen rund 30 Jugendliche – überwiegend Jungen –, zwischen ihnen stehen Bierkästen und ein Ghettoblaster. Die jüngsten sind gerade von der Grund- auf die Oberschule gekommen, die ältesten machen eine Ausbildung zum Elektriker oder Innenraumgestalter – auf ein Gymnasium geht fast niemand. 

„Assi“, sagt Marie mit einem Blick auf die Flamme. Sie geht in die 10. Klasse des Schadow-Gymnasiums in Zehlendorf. Zusammen mit zwei Freundinnen wartet sie am S-Bahnhof auf den Bus. „Die stören ja nicht, aber wir haben einfach keine Gemeinsamkeiten.“ Ihre Freundinnen nicken zustimmend. Auf den Bänken am S-Bahnhof würden sie abends nie sitzen, dafür im Fischtal oder am Schlachtensee.

Sie nennen sich gegenseitig „brothers of another mother“

Constantin, 15 Jahre alt, kommt hingegen fast jeden Tag aus Steglitz nach „Zehle“ – genau wie Jeri und Ali. Von einem Kumpel habe er erfahren, dass sich dort regelmäßig eine große Gruppe treffe und immer was los sei. Mittlerweile seien Jeri und Ali wie eine Familie für ihn; „brothers of another mother“ nennen sich gegenseitig. 

Seine eigene Familie ist hingegen enttäuscht von Constantin. Er war auf zwei Grundschulen, einem Gymnasium, zwei Gesamtschulen – von allen wurde er früher oder später rausgeworfen. Er schwänzt, kifft auf dem Schulgelände, prügelt sich mit seinen Mitschülern – während sein älterer Brüder studiert und sein jüngerer Bruder erfolgreich auf ein Gymnasium geht.

Stolz darauf ist Constantin rückblickend nicht. Seit diesem Schuljahr geht er auf eine neue Schule im Wedding. Seine Eltern wollen unbedingt, dass er den Mittleren Schulabschluss macht, Constantin will vor allem schnell eigenes Geld verdienen. „Ich versuch das jetzt durchzuziehen“ sagt er, spricht von einem „Neuanfang“ und seinen Plänen, nach der Schule eine Ausbildung zum Metallbauer zu machen.

Ein Abend kann schon mal ausarten

Constantin kommt oft schon nachmittags zu den Bänken, auch an diesem Samstag, bevor er später am Abend die Stichflamme entfachen wird. Er sagt: „Man wird hier schnell akzeptiert.“ Von seinen Lehrern, Mitschülern und Gleichaltrigen wie Marie wurde er bisher vor allem abgelehnt und ausgeschlossen. Jeri und Ali hingegen ständen hinter ihm – auch wenn es Probleme mit den Anwohnern oder der Polizei gibt. „Wenn wir viel Alkohol trinken, kann ein Abend schon mal ausarten“, erzählt Constantin. Laut würde es dann, manchmal gäbe es Prügeleien. Die Anwohner würden sich regelmäßig beschweren. „Einmal hat ein Typ aus seiner Wohnung eine Stinkbombe runtergeworfen“, erzählt Constantin; ein anderes Mal habe eine Frau von oben heruntergespuckt. Erst einmal sei tatsächlich jemand heruntergekommen. „Der wollte unsere Gruppe auflösen. Wir haben ihm klargemacht, dass er das lassen soll“, sagt Constantin. Alle für alle, im Notfall alle gegen einen – das ist das Motto von Constantins Gruppe.

Die Nachbarin hört die S-Bahn nicht mehr, aber "die da unten" stören

Eine, die regelmäßig die Polizei ruft, ist Ingrid Jankow. Von ihrem Küchenfenster sieht die gelernte Heilpraktikerin direkt auf die Holzbänke, auf denen Constantin und seine Freunde sitzen. Seit sieben Jahren wohnt sie in einer Wohnung in der Wohnanlage am S-Bahnhof zwischen dem Herbergerweg und der Hampsteadstraße. Die S1, die im 10-Minuten-Takt vorbeifährt, hört sie nicht mehr. „Aber die da unten“, sagt sie, „die stören mich“. Die laute Musik jeden Abend und die Bierflaschen, die nicht nur auf dem Vorplatz vor Strauß liegen blieben, sondern auch in der von außen frei zugänglichen Wohnanlage. „Mir macht es nichts aus, wenn die hier einen durchziehen“, sagt Jankow, „aber es stört mich, wenn sie frech werden“. Einmal sei sie runtergegangen und wollte die zwei Jungen, die vor ihre Tiefgarage gepinkelt hatten, zur Rede stellen. „Die haben nur gelacht und einen dummen Spruch gemacht“, sagt sie frustriert. Zusammen mit anderen Bewohnern der Anlage hat Jankow veranlasst, dass seit einigen Wochen ein Wachmann abends zwischen den Wohnungen patrouilliert. Seitdem sei es ruhiger geworden, aber das Hauptproblem löse es nicht.  „Die sollten mal was Sinnvolles machen“, sagt Jankow, „sich engagieren oder in einem Jugendfreizeitheim rumhängen“.

Sie haben ihren Platz vor Strauß gefunden

„Ne Shisha-Bar hier wär geil“, sagt Constantin. In Zehlendorf gebe es ja keinen Ort, an dem man nach 20 Uhr drinnen noch gemütlich zusammensitzen könne. Am Schlachtensee sei es immer voll und abends stockdunkel,von Jugend-Einrichtungen wie dem Mehrgenerationenhaus Phoenix weiter unten am Teltower Damm oder dem Jugendclub A18 in Nikolassee hat Constantin noch nie gehört. Er und seine Freunde hätten ihren Platz vor Strauß gefunden.

Wenn Constantin von seinen Freunden spricht, klingt er dabei so, als spreche er über ein persönliches Erfolgsprojekt: eine Gruppe, in der jeder akzeptiert wird und für den anderen einsteht – eine Gruppe, die Constantin in der Schule nie hatte. Oft kämen Jugendliche sogar aus Neukölln oder dem Wedding her und auch Flüchtlinge, die in Notunterkünften auf dem Gelände der nahegelegenen Schweizerhof-Grundschule untergebracht sind, seien manchmal mit dabei. Dass sie schon nachmittags anfangen zu trinken, die Schule schwänzen, Drogen nehmen, scheint die Gruppendynamik noch zu stärken.

„Zehlendorf ist schon lange nicht mehr so, wie alle denken“

In der öffentlichen Wahrnehmung vieler Zehlendorfer existieren Jugendliche wie Constantin hingegen oft gar nicht. „Zwischen Villen und Gymnasien denkt niemand, dass es auch Plattenbauten gibt“, sagt Ali, der mit 19 Jahren zu den Älteren auf den Bänken gehört. Dabei gelten Gegenden wie Zehlendorf Süd und Lichterfelde Süd auch innerhalb des reichsten Berliner Bezirks als sozial schwach. Viele Arbeitslose und Alleinerziehende leben dort, die Grundschulen im Kiez sprechen kaum Empfehlungen fürs Gymnasium aus. Einige, die abends auf den Bänken vor Strauß sitzen, wohnen in Zehlendorf Süd. Sie sind sozial ausgeschlossen, nehmen nicht teil an einem Leben, in dem die Eltern ihren Kindern die Mitgliedschaft im Tennisverein und das Auslandsjahr in den USA finanzieren können. „Zehlendorf ist schon lange nicht mehr so, wie alle denken“, sagt Ali.

Constantin greift nach einer Zigarette hinter seinem Ohr, rückt sein Basecap zurecht, schaut prüfend an sich herunter: Sneakers, Jogginghose, eine sportliche Bauchtasche. Auch im Herbst und Winter würde er zu den Bänken kommen und dort sitzen. „Wir Stamm-Zehlendorfer werden immer da sein“, sagt Constantin und zündet sich die Zigarette an.

*Alle Namen im Text wurden auf Wunsch der Personen geändert. 

Die Autorin ist in Zehlendorf aufgewachsen und zur Schule gegangen. Auf den Bänken vor Strauß saß sie abends für die Recherchen zu diesem Text zum ersten Mal. Als Jugendliche war sie vor allem am Schlachtensee und der Krummen Lanke und an Weihnachten und zu Abi-Partys im Club A18.

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Nora Tschepe-Wiesinger

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