Ehrenamt in Steglitz-Zehlendorf: "Wir hören hauptsächlich erst mal zu"
Sie brauchen Arbeit, eine Wohnung - oft aber einfach nur ein offenes Ohr: Alleinstehende geflüchtete Männer. Im Arbeitskreis Potentiale tauschen sie sich mit Deutschen aus. Eine Reportage über die "echten Themen des Lebens".
Yussuf B. hält mir einen Zettel hin. Darauf steht: Ich brauche Arbeit! Yussuf stammt aus Syrien und ist ein Flüchtling. Er ist Schmied und seit über zehn Monaten in Deutschland. Gemeinsam mit ihm und neun weiteren Männern aus Syrien, Afghanistan, Irak und Iran sitze ich im Café Moritz der Ernst-Moritz-Arndt Kirche (EMA), in Berlin-Zehlendorf. Hier findet seit März 2016 der Arbeitskreis „Potentiale“ statt. Einmal wöchentlich treffen sich deutsche Männer mit geflüchteten Männern und tauschen sich miteinander aus. Meist sind zwei Übersetzer dabei: der Araber Tony und der Perser Reza. Nur heute nicht. Es ist Urlaubszeit, viele der deutschen Männer sind verreist, die Übersetzer ebenfalls. Heute ist Elmar Stapelfeldt, Indologe und Heilpraktiker, der einzige Deutsche hier. Es war seine Idee, „Potentiale“ ins Leben zu rufen. „Nach den Übergriffen in Köln wollte ich sofort etwas tun“, erklärt er. „Viele der oftmals allein reisenden Männer haben keine Aufgabe. Ihre Potentiale liegen brach. Viele sind gut ausgebildet und wollen arbeiten. Sie brauchen Ansprache und Unterstützung. Unsere ehrenamtliche Arbeit ist auch eine vorbeugende Maßnahme, dass die Potentiale nicht in die falsche Richtung schlagen.“
Es fanden sich schnell weitere deutsche Männer, die dieses Vorhaben unterstützen. Dazu zählen u.a. ein Yogalehrer, ein Pfarrer, ein Steuerberater. Meist nehmen etwa acht deutsche Männer und zehn bis 20 Flüchtlinge an den Treffen Teil.
"So ticken die Deutschen"
Der Anfang war holprig. Die Flüchtlingsmänner, die bis Ende Mai noch in der Turnhalle in der Onkel-Tom-Halle untergebracht waren, zeigten zwar Interesse, waren aber auch vorsichtig. Die ersten Male zeigten die Deutschen den Flüchtlingsmännern kurze Videos aus der Reihe „Marhaba“ (Willkommen), die auf Arabisch das Leben hierzulande thematisieren: „So ticken die Deutschen“, „Deutsches Essen“ und auch „Reaktionen auf die Übergriffe von Köln“.
„Diese Videos waren ein Hilfsmittel, um miteinander in Kontakt zu kommen“, erzählt Elmar Stapelfeldt. „Mittlerweile brauchen wir keinen Aufhänger mehr, indem wir Deutschland erklären, sondern hören hauptsächlich erst mal zu.“
Der Erfolg dieser Haltung: Ein freundschaftlicher Umgang miteinander. Die entspannte Atmosphäre fällt mir bei dem Treffen sofort auf. Inzwischen kommen nicht mehr nur Alleinreisende, sondern auch Verheiratete und Familienväter. Die Themen kreisen um Arbeit, Wohnen, Sprache. Yussuf sagt in recht gutem Deutsch: „Wir sind seit Monaten hier. Doch immer nur: Essen, schlafen, essen, schlafen. Wir sind kräftig, wir wollen arbeiten!“
Fahim H., ein afghanischer Computerfachmann möchte sich gern an der Universität einschreiben. Aber sein Aufenthaltsstatus wurde noch nicht bewilligt.
Und Walid S., ein Schweißer sagt: „Das Schlimmste ist die Unterkunft und dass es keinen Ausweg gibt.“ Seitdem die Flüchtlinge die Turnhalle in der Onkel-Tom-Straße verlassen mussten und auf verschiedene andere Unterkünfte verteilt wurden, hadern viele damit. Die Unterkünfte sind teils schmutzig, das Essen ist nicht gut, Freunde wurden voneinander getrennt. Die Warterei zermürbt. „Unsere Kinder fragen: Wann wird es besser?“, fügt Walid hinzu. „Was sollen wir ihnen sagen?“
Erwartungsvoll sehen die Männer Elmar Stapelfeldt und mich an. Doch wir haben nichts zu bieten außer unserem Wunsch zu helfen. Denn bislang gibt es keine wirkliche Lösung. Die offiziellen Stellen haben keinen Plan, der funktioniert. Und die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Stapelfeldt sagt später zu mir: „Nach all den schlimmen Erfahrungen, die die Flüchtlinge vom Lageso berichtet haben, entwickeln wir eigene Ideen und versuchen Wohnungen und Arbeit zu vermitteln. Erst kürzlich konnte ein Afghane mit seinem Sohn in eine Einliegerwohnung ziehen. Die Kinder der Vermieter sind erwachsen und aus dem Haus. Einer der deutschen Männer vom Potentiale-Kurs tritt als Hauptmieter und Bürge auf. Außerdem versuchen wir unseren Schützlingen Praktika und Arbeitsstellen zu vermitteln. Von jedem unserer Teilnehmer haben wir die Kontaktdaten aufgenommen und die Angaben zu seiner Ausbildung und seine Wünsche. Vom ungebildeten Arbeiter bis hin zu studierten Leuten ist alles dabei.
Dass ich mich mit den Männern unterhalten kann, ist der Verdienst von Manssur R. und Elmar Stapelfeldt. Der Indologe Stapelfeldt übersetzt unsere deutschen Worte in Urdu. Manssur aus Afghanistan, Vater von fünf Kindern, beherrscht sechs Sprachen. Er übersetzt das Urdu für die eine Hälfte der Männer ins Arabische und für die andere Hälfte in Farsi. Was für ein Sprachtalent! Ja, es liegen wirklich eine Menge Potentiale brach bei den Flüchtlingsmännern. Welche Juwelen es da wohl noch zu entdecken gibt?!
Die Sprache kommt auf die Anschläge, die in den vergangenen Wochen in Ansbach, Nizza, Würzburg, Essen, Hannover und anderswo in der Welt passiert sind. Stapelfeldt will von den Männern wissen, ob ihnen auf der Straße anders begegnet wird. Kopfnicken. Ja, die Deutschen seien verunsichert, sagt Yussuf. Er könne die Angst spüren. Und plötzlich reden alle durcheinander, Manssur und Elmar kommen mit dem Übersetzen kaum hinterher. Der Tenor: Alle sind geschockt über die Attentate, die unmenschlich und überhaupt nicht hilfreich seien. Es tut ihnen sehr leid. Sie wissen, dass nicht nur gute Landsleute von ihnen hierherkommen, sondern auch kriminelle und gestörte, mit denen sie nichts zu tun haben wollen. Und sie werben um Verständnis für sich, denn sie selbst sind doch vor genau diesem IS-Terror geflohen! Neben mir sitzt Fatimah, die Ehefrau von Ahmed. Sie zeigt mir auf ihrem Handy ein Video. Ein Anschlag in ihrer Heimatstadt. Hätte ich doch bloß nicht hingeguckt! Ich sehe grauenvolle Bilder. Bilder, die in deutschen Fernsehnachrichten nicht gezeigt werden. „Daesh!“, sagt Fatimah und hat Tränen in den Augen. Mit Daesh ist der Islamische Staat gemeint.
Der Arbeitskreis „Potentiale“ leistet Integration. Er bietet Chancen für die geflüchteten Männer hier in Berlin-Zehlendorf. Zugleich bietet er aber auch Chancen für die deutschen Männer, die den Arbeitskreis organisieren. So sehen es jedenfalls Elmar Stapelfeldt und seine Mitstreiter. „Die berührenden Begegnungen mit den geflüchteten Männern und ihre Dankbarkeit haben mein Herz geöffnet“, so Stapelfeldt. „Wir Deutschen kommen dabei mit den echten Themen des Lebens in Kontakt. Und immer wieder wird klar: Das beste Mittel gegen die Angst ist, diese Menschen kennenzulernen, zu realisieren, dass sie nicht anders sind als du und ich. Denn im Grunde wollen wir doch alle das gleiche: Frieden und Freiheit, Arbeit und Brot.“
Nicki Pawlow ist Autorin und Vortragsrednerin. Sie lebt mit Mann und drei Kindern in Berlin-Zehlendorf und engagiert sich ehrenamtlich in einem Alphabetisierungskurs für Flüchtlingsfrauen. Außerdem setzt sie sich für das Sammeln und Verbreiten von guten Nachrichten ein.
Falls Sie liebe Leser, von einem freien Zimmer oder einer freien Wohnung wissen, vielleicht selbst der Vermieter, die Vermieterin sind, oder einen Praktikums- und Arbeitsplatz für die geflüchteten Männer zu vergeben haben, vielleicht eine Firma oder einen Handwerksbetrieb kennen, die oder der eine solche Beschäftigung anbietet, dann kontaktieren Sie den Arbeitskreis „Potentiale“ direkt. Die Mietzahlungen werden übrigens vom Lageso übernommen. arbeitskreispotentiale@yahoo.de oder 0177-1429896.
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